Germania: Roman (German Edition)
zweifelsohne ein großer Betrieb, für den Frau Berg und der Herr Doktor die Verantwortung trugen. Oppenheimer versuchte abzuschätzen, wie viele potenzielle Verdächtige es hier gab. Es mussten mehrere Dutzend sein.
Trotz seiner Größe wurde das Terrain durch eine Baumreihe vor allzu neugierigen Blicken abgeschirmt. Oppenheimer sah es zwischen den Stämmen silbrig funkeln. Zu seiner Linken glitzerte der Gudelacksee, während sich rechts noch ein kleiner Weiher befand, der jedoch nicht mehr als ein dunkler Fleck in der Landschaft war.
»Das dort drüben ist der kleine See, an den sich unser Personal manchmal zurückzieht«, erklärte Frau Berg.
»Sehr interessant. Wie viele Leute arbeiten denn hier?«
»Der Herr Doktor kann Ihnen die genauen Zahlen geben. Insgesamt dürften es so um die hundertdreißig Personen sein. Schwestern, die Hebamme, unsere Kindergärtnerinnen, das Küchenpersonal, Hauspersonal natürlich auch, Gärtner, Chauffeur, da kommt schon einiges zusammen.«
Missmutig vernahm Oppenheimer diese Angaben.
»Gab es jemanden, mit dem Fräulein Friedrichsen engeren Kontakt hatte?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis.«
»Wie kam sie zu dieser Anstellung? Um als Geheimnisträgerin eingestellt zu werden, benötigt man da nicht besondere – Referenzen?«
»Frau Inge war ursprünglich Pensionärin in einem unserer Heime. In welchem, das kann ich nicht sagen. Diese Angaben sind vertraulich, und der Herr Doktor hat als Einziger Zugang zu den Akten der Zentrale.«
»Sie war Pensionärin?«
»Entschuldigen Sie, ich hätte es erklären sollen. So nennen wir die Frauen, die in unserer Entbindungsstation aufgenommen werden. Jede von ihnen wird nur mit dem Vornamen angesprochen, um ihre Identität zu schützen. Außerdem gibt es bei uns die Anrede Fräulein nicht, da wir im Interesse der Mütter keine Hinweise auf ihren Familienstand geben wollen.«
»Also wurde Fräulein Friedrichsen von dem Heim vermittelt, in dem sie ihren Sohn zur Welt gebracht hat?«
Frau Berg nickte. »Genau. Sie hatte beste Referenzen bezüglich ihrer charakterlichen und weltanschaulichen Eignung für diese Anstellung. Während ihres Aufenthalts in der Entbindungsstation war sie der Partei beigetreten. Die Heimleitung hat auch bestätigt, dass sie an den Kursen mit großem Interesse teilgenommen hat.«
»Welche Art von Kursen meinen Sie?«
»In jedem Heim werden für die Pensionärinnen Veranstaltungen durchgeführt. Wir versuchen, den Müttern alles zu vermitteln, was für die Kindererziehung und für die Volksgesundheit im Allgemeinen wichtig ist. Wir bieten ein vielfältiges Programm. Manchmal werden im Radio Führerreden gehört, gelegentlich steht auch ein gemeinschaftlicher Liederabend auf dem Plan. Allerdings geht unsere Verantwortung noch weiter. Abgesehen von Kindern und Haushalt, gibt es natürlich auch eine politische Schulung. Schließlich wollen wir die Mütter zu guten Nationalsozialistinnen erziehen, damit sie unser Heim weltanschaulich gefestigt wieder verlassen.«
»Was ist mit Fräulein Friedrichsens Sohn? Ist er noch beim Lebensborn?«
»Horst? Ja, er ist hier bei uns im Kinderhort. Jedes zweite Wochenende hat sie ihn besucht. Er ist dort drüben bei den anderen.« Frau Berg zeigte zu einer Wiese hinüber, auf der einige Kinder ausgelassen umhertollten. Wenn eines dieser Kinder Inge Friedrichsens Sohn war, dann spielte er so fröhlich wie die anderen, ahnungslos, dass jemand ihm die Mutter genommen hatte.
Eine gewisse Beklommenheit kam in Oppenheimer auf, mit der er nicht gerechnet hatte, als er dachte, er habe es mit einer reinen Zuchtstation zu tun. Der Alltag in dem Heim war viel normaler und vielleicht gerade deswegen für ihn weitaus erschreckender. Dass Inge Friedrichsen beim Lebensborn arbeitete, bedeutete nicht, dass sie ein mannstolles Weib war. Sie hatte eine Chance gewittert, Geld zu verdienen, unabhängig zu sein und gleichzeitig ihr Kind zu behalten. Doch sie musste sich an Regeln halten, und das tat sie bereitwillig. Ob sie aus Überzeugung in die NSDAP eingetreten war oder aus Kalkül, würde sich nicht mehr zweifelsfrei klären lassen. Die Chance, dass die Kurse im Lebensborn dabei eine Rolle gespielt hatten, stufte Oppenheimer jedoch als gering ein. So wie Frau Berg diese Veranstaltungen schilderte, gab es wenig Unterschied zu der Indoktrination, der das deutsche Volk schon seit Jahren ausgesetzt war, sei es im Schulunterricht, am Arbeitsplatz, durch die Zeitungsberichte oder durch das
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