Germania: Roman (German Edition)
Radioprogramm.
Doch Oppenheimer hatte nach seinem Gespräch mit Frau Berg eine Ahnung davon bekommen, wie alles zusammenhing. Dass die Partei Müttern half, uneheliche Kinder auf die Welt zu bringen, sofern diese den Anforderungen ihrer Rassenlehre entsprachen und guten Blutes waren, geschah nicht aus Menschenliebe. Hier an diesem scheinbar idyllischen Ort wurde ein Krieg geführt. Jeden Tag wurden Gefechte ausgetragen, bei denen es nicht um die derzeitige Situation an der Front in Russland ging, sondern um die Kämpfe, die noch in ferner Zukunft lagen. Die Nationalsozialisten rüsteten auf, nicht mit neuen, ausgeklügelten Todesmaschinen, sondern mit Menschenmaterial. Die durchschnittliche deutsche Mutter hatte so viele Kinder wie möglich zu liefern und wurde allenfalls mit einem Mutterkreuz dafür belohnt, dass ihre Söhne in späteren Kriegen rücksichtslos als Kanonenfutter dienen konnten. Im Lebensborn jedoch sollten die neuen Führungskader zur Welt gebracht werden. Eine Elite ganz nach Hitlers Geschmack, die sich mit ihrem vermeintlich reinen Erbgut an der Führungsspitze etablieren sollte. So weit zumindest die Theorie. Inge Friedrichsen war ein kleines Rad in dem Getriebe dieses Planes gewesen. Ihre Mitarbeit war zwar nicht entscheidend, und doch hatte sie wie so viele andere einen Beitrag geleistet, damit das System reibungslos funktionierte.
»Ich denke, der Herr Doktor dürfte jetzt Zeit für Sie haben«, sagte Frau Berg und schritt auf das Hauptgebäude zu. Als Oppenheimer ihr folgte, drangen Laute an seine Ohren, die er zunächst nicht einordnen konnte. Er fragte sich, ob er sich verhört hatte oder ob wirklich jemand ausgerechnet an diesem Ort, der der Reinerhaltung der germanischen Rasse gewidmet war, eine fremde Sprache gesprochen hatte. Oppenheimer schaute sich um und sah, wie ein kleiner Junge, vielleicht drei oder vier Jahre alt, einen ledernen Ball umklammerte. Seine blonden Haare waren von der Sonne fast schlohweiß gebleicht. Störrisch blickte er eine Kindergärtnerin an.
»Piłka«, sagte der Junge und hielt sein Spielzeug fest.
»Nein, sag Ball «, korrigierte die Kindergärtnerin ihn. » Ball heißt das. Du hast einen Ball. Ich will nicht, dass du noch einmal Piłka sagst!«
Der Gesichtsausdruck des Buben verfinsterte sich. Er schüttelte heftig den Kopf. Ein Mädchen in einem Kleid und mit seitlich abstehenden Zöpfen beobachtete das Kräftemessen der beiden, bis sie von einer Schwester fortgeführt wurde.
Die Kindergärtnerin seufzte hörbar, blickte ihren renitenten Schützling an und stemmte die Hände in die Hüften. »Willst du mich etwa nicht verstehen? Bis heute Abend sagst du Ball, oder es gibt kein Abendbrot.«
Oppenheimer wandte sich an Frau Berg. »Was war das gerade für eine Sprache?«
»Ein Ostkind. Gelegentlich bekommen wir welche, um herauszufinden, ob sie eindeutschungsfähig sind.«
»Wo kommen die Kinder her?«
»Meistens kommen sie aus dem Warthegau. In Brockau und Kalisch gibt es Heime, mit denen wir zusammenarbeiten. Zu unserer Aufgabe gehört es natürlich auch, gutrassige Kinder ins arische Stammland zurückzuführen.«
Oppenheimer wagte nicht zu fragen, wo sich die Eltern dieser Kinder befanden. Waren ihnen die Kinder entrissen worden? Als er sich noch einmal umblickte, sah er, wie der Jungen mit hochrotem Kopf mitten auf der Wiese stand. Er schien nicht zu wissen, was er hier sollte und was von ihm verlangt wurde. Alle Gewissheiten, denen er bislang vertrauen konnte, hatten von einem Tag auf den anderen ihre Gültigkeit verloren. Als sich ihre Blicke kreuzten, glaubte Oppenheimer für einen kurzen Moment, in sein eigenes Antlitz zu schauen.
»Ich muss mich beschweren«, sagte die Dame in dem einfachen Kleid. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, eine teuer funkelnde Halskette anzulegen, obwohl die Pensionärinnen von der Heimleitung zu einem bescheidenen Auftritt angehalten wurden.
»Einen Moment«, sagte Frau Berg und führte ihre Gäste zum Büro des Herrn Doktor. Doch die Dame ließ sich nicht abschütteln und fuhr mit ihren Klagen fort.
»Diese Verpflegung, nicht auszuhalten. Kein Mensch kann so viel Kohl vertragen. Ich möchte nicht, dass mein Kleiner Blähungen bekommt.«
Frau Berg hielt inne. »Er ist gerade erst entbunden worden. Wie soll das denn gehen?«
»Das überträgt sich durch die Muttermilch, ist doch klar.«
Frau Berg kräuselte unheilvoll ihre Stirn. Nachdem sie Oppenheimer und Vogler gebeten hatte einzutreten, konnten die
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