Germania: Roman (German Edition)
Zetteln. Je mehr Indizien er gesammelt hatte, desto komplexer wurde das Schaubild.
Am Donnerstag stellte Oppenheimer jedoch ernüchtert fest, dass sich trotz allem Herumgeschiebe kaum etwas verändert hatte. Zudem musste er daran denken, dass dies noch der harmlose Teil seiner Arbeit sein würde. Wenn erst die Daten der potenziell verdächtigen Personen aus Klosterheide hinzukamen, war es gut möglich, dass die Wand bald mit Zetteln übersät sein würde.
Nichtsdestotrotz entdeckte Oppenheimer bei seiner Arbeit einen wichtigen Unterschied zu früher. Wenn er damals an einem Fall gearbeitet hatte, dann musste er gelegentlich damit kämpfen, den Überblick zu bewahren. Er hatte schon immer ein Problem damit gehabt, sich all die Namen und Gesichter zu merken, denen er im Laufe einer Untersuchung begegnete. Das Sichten von Aktenstapeln hatte er manchmal als wahre Zumutung empfunden. Doch als er sich jetzt durch die Dokumente arbeitete, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass es seinem Gehirn eine geradezu perverse Freude bereitete, sich auch mit den kleinsten Details zu beschäftigen. Fast schien ihm sein Verstand wie ein trockener Schwamm, der die ganzen Jahre nur darauf gewartet hatte, sich wieder mit Informationen vollzusaugen, sie zu bewerten, zu ordnen und zu verknüpfen.
Oppenheimer war mit Vogler übereingekommen, dass sie am Freitag zusammen das Heim Kurmark aufsuchen würden. Wenn er ehrlich war, dann freute er sich sogar darauf, der Stadt zu entkommen. Er war zwar kein ausgesprochener Naturbursche, doch angesichts der unablässigen Bombenangriffe und Störflüge genoss er den Ausflug in eine ruhige und unversehrte Landschaft.
Hoffmann hatte es sich nicht nehmen lassen, sich höchstpersönlich hinter das Steuer des schwarzen Wagens zu setzen, um sie ins Ruppiner Land zu eskortieren. Hätte sein Verstand nicht etwas anderes gesagt, dann wäre Oppenheimer die Landschaft, die er wenige Kilometer außerhalb Berlins erblickte, wie ein lange vergessener Traum vorgekommen. Er ertappte sich mehr als ein Mal dabei, wie er, mit offenem Mund, aus dem Autofenster starrte. Nachdem er eine fast unendlich lange Zeit in der Stadt verbracht hatte, verlor sich sein Blick nun in der Weite, und unvermittelt stieg in ihm das Gefühl auf, hier auf angenehme Weise fremd zu sein.
Die Gebäude waren spärlich geworden. Neben Bauwerken aus rotem Backstein, wie sie überall in Berlin zu finden waren, gab es kleine verputzte Häuser, deren spitze Giebel in den Himmel zielten. Gelegentlich kamen sie an Gasthäusern vorbei, in denen Stadtbewohner vor dem Bombenbeschuss Zuflucht gesucht hatten. Abgesehen davon sah man vorwiegend die Einheimischen, einfache Leute mit rosiger Haut und ehrlichem Blick. Doch Oppenheimer wusste, dass dies Wunschdenken war. Natürlich waren die Menschen hier nicht besser als anderswo. Hilde hatte erzählt, dass die Parteigenossen auf dem Land sogar besonders linientreu waren und über die mangelnde Wertbeständigkeit der Großstädter die Nase rümpften. Doch in diesem Moment wollte Oppenheimer einfach glauben, dass es trotz allem eine positive Gegenwelt gab, ja, dass er durch eine Postkartenidylle fuhr. Niemand lief eilig vor einem Luftangriff in den Bunker, keine Alarmsirenen durchschnitten die Luft, um ihn herum herrschte ein Friede, den er nicht mehr für möglich gehalten hatte. Sie fuhren an einer Kirche vorbei, deren Glockenturm ihn an die Zinnen einer mittelalterlichen Burg erinnerten. In der nächsten Ortschaft präsentierte an einer Kurve ein anderes Gotteshaus, das im Fachwerk-Stil gebaut war, seine dunkel gebeizte Holzkonstruktion stolz der Außenwelt. Die wenigen Häuser, die verloren an der Straße standen, die sanft geschwungenen Hügel, die dunklen Kiefernwälder, durch die sie fuhren – diese Realität hatte die ganze Zeit über unverändert existiert, obwohl sie in Oppenheimers Vorstellungswelt zuletzt nicht mehr vorgekommen war.
Nach einer Dreiviertelstunde Fahrt versuchte Oppenheimer, sich zu konzentrieren, um die Fakten noch einmal in seinem Kopf durchgehen zu können. Bei Hoffmanns Tempo würden sie schon bald eintreffen, und er wollte nicht unvorbereitet auf der Bildfläche erscheinen.
»Also, Inge Friedrichsen wurde am Freitagabend zuletzt gesehen«, fasste er zusammen. »Der Mord muss im Laufe des nächsten Tages geschehen sein. Sonntag früh wurde schließlich ihre Leiche entdeckt. Die Autofahrt von Klosterheide nach Berlin dauert bei normaler Fahrweise eineinhalb Stunden, mit
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