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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Gilbers
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der Bahn braucht man etwa zweieinhalb Stunden. Täglich gibt es fünf Verbindungen, um fünf Uhr siebenundzwanzig fährt der erste Zug nach Berlin und um zwanzig Uhr zehn der letzte. Fast genauso verhält es sich in umgekehrter Richtung. Es gibt also viele Möglichkeiten, nach Berlin zu gelangen, doch wir müssen aller Wahrscheinlichkeit nach davon ausgehen, dass der Mörder mindestens den ganzen Samstag über in der Stadt blieb. Wir sollten unsere Nachforschungen darauf konzentrieren, ob jemand an diesem Tag abwesend war.«
    Vogler nickte zustimmend. Dann blickte er auf die leere Zigarettenspitze, die in Oppenheimers Mundwinkel hing.
    »Hier, nehmen Sie«, sagte er und reichte ihm eine Zigarette. »Sie brauchen sie nicht zu rauchen, aber stecken Sie sie bitte in die Spitze. Es irritiert mich sonst.«
    Natürlich kam Oppenheimer der Bitte nach. Auf diese Weise konnte er eine weitere wertvolle Zigarette seiner Sammlung hinzufügen.
    Das Dorf, in dem das Lebensborn-Heim stand, lag direkt am südlichen Rand der Mecklenburgischen Seenplatte, die sich bis nach Wismar hinüberzog. Drei große Seen dominierten das Gebiet um Klosterheide: der Große Strubensee, der Wutzsee und schließlich der größte, der Gudelacksee, unweit dessen Ufer sich das Heim Kurmark befand. Oppenheimer hätte sich nicht gewundert, wenn das Lebensborn-Heim das anliegende Dorf auf einer steilen Klippe überragt hätte; ein verbotener Ort mit einer abweisenden Fassade wie Draculas Schloss, über den wenigen Dächern von Klosterheide eine finstere Aura ausstrahlend, vor der sich die Häuschen wie zum Schutz dicht zusammendrängten. Doch nichts konnte der Wahrheit ferner sein. Das Dorf bestand gerade mal aus einer Handvoll Häuser, die man im weiten Abstand voneinander errichtet hatte. Platz gab es hier mehr als genug.
    Kurz bevor sie das Dorf wieder verließen, bog Hoffmann urplötzlich von der Hauptstraße nach links ab. Sie kamen auf einen Feldweg, der direkt zu dem Wald führte. Oppenheimer glaubte beinahe, dass Hoffmann sich verirrt hatte, wäre dieser nicht beharrlich quer durch den Wald gefahren, bis er links eine enge Schneise in der dichten Blätterwand entdeckte. Doch statt dem Himmel, den Oppenheimer zwischen den Baumwipfeln zu erblicken erwartet hatte, tauchte ein beeindruckender Schornstein aus gelben Backsteinen auf. Wie eine Laune der Natur stand er da, zwischen all dem anderen Gewächs, ein Baum, der aus der Art geschlagen war. Als sie sich näherten und auf dem kleinen Platz hielten, war hinter einem geschlossenen Tor auch das Gebäude zu erkennen. Sie waren am Ziel.

    Die Schwester führte sie zum großen Saal, der wie leer gefegt war. Auf dem Parkettboden brach sich das Licht der Fenster, deren staubige Vorhänge schon seit Jahrzehnten von Menschenhand unberührt erschienen. Auf der gegenüberliegenden Seite war ein gutes Dutzend Hakenkreuzfahnen an der Wand drapiert, davor eine monolithische schwarze Büste des Führers. Außer diesen Gegenständen konnte Oppenheimer nichts erblicken.
    »Wenn Sie einen Augenblick hier warten würden«, sagte die Schwester, während sie Vogler scheue Blicke zuwarf. »Sie müssen verstehen, wir bereiten die Namengebungsfeier vor.« Dann verschwand sie im Zwielicht hinter dem Türrahmen wie eine Halluzination.
    »Namengebungsfeier«, wiederholte Oppenheimer. »Erwartet man von uns, dass wir auch etwas beisteuern?«
    »Ich – denke nicht«, sagte Vogler, der nicht wusste, was er tun sollte, und deswegen alle paar Sekunden das Standbein wechselte.
    Oppenheimer ging an den Fahnen entlang. Inmitten der Flaggen hing das Porträt einer Frau. Er beäugte es neugierig. »Hm, und wen haben wir hier? Ich nehme an, das wird die Heimgründerin sein? Der Photographie nach zu urteilen, ist die Dame wohl schon ein älteres Semester.«
    Vogler seufzte kurz auf ob dieser Unwissenheit. »Das ist die Mutter des Führers.«
    »Oh, ah ja« war das Einzige, das Oppenheimer in seiner Überraschung herausbrachte. Mit einem ordentlichen Schuss geheuchelter Zerknirschung fügte er schließlich hinzu: »Entschuldigung, mein Fehler.« Natürlich hätte er ahnen müssen, dass in jedem Lebensborn-Heim ein Bild von Hitlers Mutter hing. »Schöner Rahmen«, meinte Oppenheimer, doch Voglers Schweigen schien nur noch eisiger zu werden.
    Keuchend drängten sich plötzlich zwei Gestalten in grauem Kittel an ihnen vorbei, die Stühle schleppten. Als sie Voglers Uniform erblickten, stellten die beiden Männer ihre Ladung auf der Stelle

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