Germania: Roman (German Edition)
ab und riefen: »Heil Hitler!« Vogler kam nicht mal dazu, ihnen durch ein Kopfnicken zu erlauben, mit der Arbeit weiterzumachen, da sie in Windeseile bereits wieder ihre Stühle gepackt hatten und sie hastig in eine Zimmerecke schleppten. Als sich Oppenheimer irritiert umblickte, erschien eine Schwester in einem weißen Kittel. Auch der weiße Kragen und die strahlend weiße Haube, die sie mit Haarklammern an ihrem dunklen Schopf befestigt hatte, unterschieden sie nicht von dem anderen Pflegepersonal. Doch ihr forscher Auftritt und die Reaktion der Mitarbeiter ließen erahnen, dass sie trotz ihrer geringen Körpergröße eine gewisse Autorität besaß.
»Guten Tag, ich nehme an, Sie sind Kommissar Oppenheimer. Ich bin Frau Berg, die Oberschwester im Heim Kurmark.« Sie drückte Oppenheimer kräftig die Hand. »Der Herr Doktor kann Sie leider gerade nicht empfangen, da eine Entbindung ansteht. Sie werden später noch Gelegenheit haben, den Herrn Doktor selbst zu sprechen.«
Eine Kolonne schwitzender Putzfrauen schleppte Eimer voller Waschlauge in den Saal, wobei sie ehrfürchtig einen Bogen um Frau Berg machten.
»Wie Sie sehen, stecken wir gerade mitten in den Vorbereitungen zu unserer Namengebungsfeier. Am besten suchen wir uns einen ruhigeren Platz. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen auch das Heim zeigen.«
Oppenheimer hatte nichts dagegen, und so ließen sie sich durch die Gebäude führen. Er musste sich eingestehen, dass seine Erwartungen enttäuscht wurden. Nirgends gab es die Plüsch-Salons, die sich Oppenheimer vorgestellt hatte. Auch für weitere Annehmlichkeiten, die dazu angeregt hätten, sich freudig fortzupflanzen, schien hier kein Platz zu sein. Als sie die einförmigen Korridore mit ihrem muffigen Geruch entlanggingen, erinnerte ihn das Haus weniger an ein Bordell als an ein Entbindungsheim. Und tatsächlich schien dies auch der vorrangige Sinn und Zweck des Lebensborn zu sein.
»Ursprünglich war der Gebäudekomplex ein Erholungsheim der AOK. Neben der Entbindungsstation haben wir auch einen Kinderhort.«
»Wer ist hier der Heimleiter?«, wollte Oppenheimer von Frau Berg wissen.
»Diese Stelle ist momentan unbesetzt. Der Herr Doktor und ich teilen uns die Aufgaben.«
»Dann können Sie mir sicher weiterhelfen. Fräulein Friedrichsen war als Sekretärin angestellt. Leider kann ich mir darunter nicht viel vorstellen. Was genau gehörte zu ihren Aufgaben?«
»Im Wesentlichen verwaltet die Sekretärin bei uns die Kasse und erledigt Schreibarbeiten.«
»Und was fällt da so an?«
»Es gibt eine Reihe amtlicher Papiere, die sie ausstellt, also Geburtsurkunden, Sterbeurkunden, dazu führt sie die Bücher und das Melderegister. Ich glaube, Frau Inge hat sogar einmal ein Hochzeitspaar getraut.«
»Gibt es denn hier kein Standesamt, das für so etwas zuständig ist?«
»Sie müssen Folgendes verstehen: Unsere Kinder sind Geheimfälle. Ein Großteil unserer Arbeit besteht darin, die Ehefrauen von SS-Angehörigen zur Entbindung aufzunehmen. Doch wir haben noch weitere Verpflichtungen. Dazu gehört auch, dass wir unverheirateten Frauen ermöglichen, ihre Kinder zur Welt zu bringen, ohne dass jemand davon erfährt. Wir sorgen für den Nachwuchs, und falls sich die Mutter dazu entscheiden sollte, ihr Kind zur Adoption freizugeben, versuchen wir, es an linientreue Familien zu vermitteln. Wir verpflichten uns dabei zu größter Diskretion. Für Kinder, die hier geboren werden, gilt das übliche melderechtliche Verfahren deswegen nicht.«
»Dann war Fräulein Friedrichsen also Geheimnisträgerin?«
»Das kann man so sagen. Bei der Sekretärin kommen alle Informationen zusammen. Sie kennt die richtigen Adressen der Mütter, weiß, welche von ihnen verheiratet sind, in manchen Fällen kennt sie sogar die Daten der Väter. Wie jede Sekretärin wurde Frau Inge vom Herrn Doktor zuvor darauf aufmerksam gemacht, dass ihre Position strengster Geheimhaltung unterlag.«
Dass eine Sekretärin wie Inge Friedrichsen Geheimnisträgerin war, überraschte Oppenheimer. Das konnte möglicherweise ein Tatmotiv sein.
Frau Berg verließ mit ihnen das Hauptgebäude. Es war ein vierstöckiges Bauwerk, dessen Portal von zwei imposanten Dachgauben flankiert wurde. Hinzu kamen mehrere Nebengebäude. Nur aufgrund der Schneise zwischen den Bäumen, die als Einfahrt zum Heim fungierte, wäre man nicht auf die Idee gekommen, dass sich dahinter ein solch weitläufiges Grundstück mit derart massiven Steingebäuden verbarg. Es war
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