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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Gilbers
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etwas gestoßen.
    Oppenheimer fasste zusammen: »Also, während die Wohnorte der Opfer nahe der Innenstadt liegen, fand man ihre Leichen nur im Südosten. Warum?«
    »Weil es gefährlicher ist, eine Leiche zu transportieren als einen bewusstlosen Menschen?«
    »Möglich«, erwiderte Oppenheimer. »Es würde mich nicht wundern, wenn sich unser Mörder ebenfalls im Südosten aufhält. Er muss dort seinen Stützpunkt haben.«
    »Dann können wir auch gleich den nächsten Schritt gehen und seine Vorgehensweise analysieren. Er legt mit seinen Opfern relativ weite Strecken zurück, muss also einen motorisierten Untersatz haben, der halbwegs geräumig ist, damit er auch eine Leiche transportieren kann.«
    »Er entführt die Frauen aus ihrem gewohnten Umfeld, bringt sie an einen unbekannten Ort, wo er sie zunächst quält und dann umbringt. In der Nacht von Samstag auf Sonntag deponiert er die Leichen.«
    »Das alles geschieht also am Wochenende«, fügte Hilde hinzu. »Was nahelegt, dass er möglicherweise einer geregelten Arbeit nachgeht und werktags keine Zeit hat.«
    »Mit anderen Worten: Wir suchen einen Mörder mit fahrbarem Untersatz und stark ausgeprägtem Arbeitsethos«, sagte Oppenheimer zufrieden.
    »Das hätte jetzt fast von mir kommen können«, meinte Hilde.

    Nachdem sich Oppenheimer verabschiedet hatte, ging Hilde beunruhigt in ihrer Wohnung auf und ab. Ihre Heiterkeit war zuletzt gespielt gewesen. Sie konnte nur hoffen, dass Richard es nicht bemerkt hatte. Die Dinge standen nicht gut, und bald könnten sie noch schlimmer werden. Und ausgerechnet Oppenheimer, den sie bislang als ihren engen Freund betrachtet hatte, wäre womöglich schuld daran. Wenn sich die Untersuchung so weiterentwickelte, wie Hilde befürchtete, würden sie bald Schwierigkeiten bekommen.
    Sie trank einen weiteren Klaren und überlegte, ob es ihr gelingen könnte, Oppenheimer zu beeinflussen. Doch dieses Vorhaben schien hoffnungslos zu sein. Wenn es um seinen Beruf ging, war er unbestechlich. Schon lange, bevor sie sich kennengelernt hatten, und noch ehe Oppenheimer als Jude verfolgt wurde, hatte er seine außerordentliche Begabung bereits bewiesen.
    Es war einer dieser kleinen Zufälle gewesen, die ein ganzes Leben verändern können, als sie ihn eines Abends auf dem Bürgersteig vor ihrem Haus entdeckt hatte. Es war der Tag der Reichskristallnacht, und Oppenheimer war nicht viel mehr als eine ängstliche Gestalt, die den Schein der Straßenlaternen mied und Schutz vor den Schlägern der SA suchte. War es im nächsten November wirklich erst sechs Jahre her, seit die brennenden Synagogen den Nachthimmel über Berlin rot gefärbt hatten? So vieles war seitdem geschehen.
    Sie erinnerte sich noch gut an die Propaganda, die dem Pogrom vorausging. Den Vorwand dazu lieferte Herschel Grynszpan, ein jüdischer Emigrant, der in Paris Ernst vom Rath, einen Sekretär der deutschen Botschaft und Mitglied der NSDAP, erschossen hatte. »Weltjuda reißt die Maske vom Gesicht« , schrien die Zeitungsschlagzeilen in kalkulierter Erregung. Doch die Berliner zeigten kaum antisemitischen Hass, sondern verhielten sich still. Eine drückende Beklommenheit hatte sich auf ihre Gemüter gesenkt, denn sie ahnten, was sich da zusammenbraute.
    Der vermeintlich spontane Volkszorn, der sich daraufhin gegen die Juden entlud, war generalstabsmäßig geplant. Der Kurfürstendamm verwandelte sich in ein eisig glitzerndes Meer. Doch es war kein plötzlicher Frost, der die Straßen aus einer meteorologischen Laune heraus mit Eis überzogen hatte, es waren zertrümmerte Schaufenster jüdischer Geschäfte, auf denen sich die ersten Sonnenstrahlen brachen.
    An diesem Tag spürten die Menschen zum ersten Mal, wie es war, Gefangene des eigenen Staates zu sein. Auch Hilde war mit der Trambahn an den verkohlten Überresten der Synagogen vorbeigefahren. Die Leute im Abteil triumphierten nicht. »Antisemitismus – gut und schön, aber man kann’s auch übertreiben«, so oder ähnlich lautete der gemurmelte Kommentar der Passagiere. Doch keiner von ihnen schritt ein. Sie waren feige. Und schämten sich deswegen. Dies galt auch für Hilde.
    In den folgenden Tagen waren die Juden Freiwild. Im Land regierte das Recht des Stärkeren, das mit brutaler Gewalt Resultate schaffte, ohne argumentieren zu müssen. Ohnmächtig hatte Hilde die Geschehnisse beobachtet, sich dessen bewusst, dass der Widerstand einer einzigen Frau nichts bewirken würde. Um den letzten Funken an Selbstachtung zu

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