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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Gilbers
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Ich möchte bei der Befragung ebenfalls anwesend sein.«
    Oppenheimer war dies mehr als recht.

    Die Sitze des Daimlers waren so bequem, dass Oppenheimer fast sofort einschlief. Er hatte die frühen Morgenstunden mit den anderen Mietern im Keller verbracht, da es in der Nacht wieder Alarm gegeben hatte. Nur mit Hilfe der Pervitin-Tabletten hatte es Oppenheimer in den letzten Tagen geschafft, seinen Organismus am Laufen zu halten. Doch als er heute früh das Medikamentenröhrchen zur Hand genommen hatte, bemerkte er, dass seine Vorräte auf drei Tabletten geschrumpft waren. Er entschloss sich, an diesem Tag keine zu nehmen, was vielleicht fahrlässig war, da er bei der Vernehmung von Reithermann auf Draht sein musste.
    Oppenheimer wurde von Sirenen aus den Schlaf gerissen und identifizierte das anschwellende Heulen als Voralarm. Vor seinen Augen glitten Straßenzüge vorbei, sein Körper wurde sanft geschüttelt – also befand er sich noch immer im Auto.
    »Wir sind gleich da«, ertönte es vom Fahrersitz. Oppenheimer erkannte den Hinterkopf von Vogler, der heute selbst am Steuer saß.
    Oppenheimer richtete sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte Vogler bereits am Straßenrand angehalten. Sie waren in Horst-Wessel-Stadt, einem Stadtteil, den die alteingesessenen Berliner noch unter dem Namen Friedrichshain kannten. Die Ruine einer Villa ragte vor ihnen empor. Hinter der zerborstenen Fassade war das Gebälk in das Innere des Hauses gestürzt. Wahrscheinlich hatte eine Bombe die Villa direkt getroffen. Abseits des Gebäudes lagen einzelne große Trümmer, doch sie wirkten eher wie abstrakte Skulpturen, die ein kunstsinniger Eigentümer auf den englischen Rasen gestellt hatte, denn absurderweise sah der Garten immer noch tadellos gepflegt aus.
    Vogler kratzte sich am Kopf. »Verdammt noch mal«, fluchte er ratlos. »Es muss hier irgendwo sein. Nummer zweiundvierzig.« Er studierte seinen Pharus-Plan der Innenstadt. Da sich die Straßenverläufe schon lange nicht mehr an die Karten hielten, konnte es leicht vorkommen, dass man sich verfuhr.
    »Ich schaue mich mal um«, sagte Oppenheimer und stieg aus. Am schmiedeeisernen Tor hing groß und deutlich das Schild mit der Nummer 42. Da es nicht abgeschlossen war, ging Oppenheimer einige Schritte auf das Grundstück, um sich durch Rufen bemerkbar zu machen. Doch in der Ruine wohnte niemand mehr.
    Auf der Straße humpelte ein alter Mann den Gehsteig entlang und schob dabei einen Bollerwagen mit Habseligkeiten vor sich her.
    »Entschuldigung«, rief ihm Oppenheimer zu. »Wohnt hier Gruppenführer Reithermann?«
    Der Greis blieb stehen. »Ick gloob, den werden Se hier nich mehr finden. Seh’n Se doch selbst, durchjepustet, die Bude.« Das Gebiss des Mannes war in einem nur unwesentlich besseren Zustand als die zerstörte Ruine. »Früher wohnten hier die Epsteins. Dann hat der feine Herr sie abtransportieren lassen und hat sich selbst breitjemacht. Aber so läuft dit mal heute. Letzte Woche is dann dit Jeschenk von de Amerikaner reinjesaust. Hätt ick nich jedacht, auch die Goldfasane trifft’s mal.«
    Goldfasane wurden die ranghohen Parteifunktionäre genannt. Das Volk missgönnte ihnen, dass sie den Rahm abgesahnt hatten und in Saus und Braus lebten. Gleichzeitig waren die Leute jedoch felsenfest davon überzeugt, dass der Führer diese Exzesse nicht zulassen würde, wenn er davon Wind bekäme. Doch niemand wagte jemals, die Probe aufs Exempel zu machen und die Profiteure zu melden.
    »Ist Reithermann umgekommen?«
    »Nee, nur ausjebombt isser. Keine Ahnung, wo er steckt.« Als Vogler aus dem Fahrzeug ausstieg, tippte der Alte kurz an seine Mütze. »Se können ja ruhig kieken. Ick muss mir leider sputen«, sagte er noch und verschwand um die nächste Häuserecke.
    »Schauen wir nach«, meinte Vogler. »Vielleicht hat Reithermann eine Nachricht hinterlassen, wo er zu finden ist.«
    Oppenheimer nickte und folgte Vogler zur Ruine. Diese Art der Kommunikation war weit verbreitet. Überall fand man an den Fassaden der zerbombten Häuser die sogenannten Wandzeitungen, Zettel ehemaliger Bewohner mit der neuen Adresse oder mit Suchmeldungen nach vermissten Familienmitgliedern. Vielleicht war Reithermann so geistesgegenwärtig gewesen, seine neue Adresse hier zu hinterlassen.
    Vogler untersuchte den Türrahmen, in dessen Angeln nur noch Bruchstücke der Tür hingen. Als Oppenheimer das Haus umrundete, hörte er ein tiefes Brummen.

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