Germania: Roman (German Edition)
bewahren, legte sie damals den heiligen Schwur ab, den ersten Verfolgten bei sich aufzunehmen, der ihr über den Weg lief. Und dieser Verfolgte war Oppenheimer.
Die nächsten drei Tage versteckte sie ihn in ihrem großen Haus, bis die Verhaftungswelle beendet war und Oppenheimer wieder nach Hause zurückkehren konnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie auch Richards Frau kennengelernt. Lisa hatte nach seinem Verschwinden unermüdlich die Gefängnisse in Plötzensee, Moabit und am Alexanderplatz abgeklappert, bis Hilde ihr mitteilen konnte, dass ihr Mann in Sicherheit war. Während dieser Tage hatte Hilde mit Oppenheimer hinter verschlossenen Fensterläden höchst interessante Gespräche geführt, und das erst recht, als sie herausgefunden hatte, dass ihr Gast als ehemaliger Mordkommissar in den Fall Großmann involviert gewesen war. In diesen Stunden hatte sich Oppenheimer in ihrem Herzen verfangen. Sie hatte ihn aufgenommen, um ihre eigene Seele zu retten, und bekam doch viel mehr geschenkt.
Und nun bestand die Gefahr, dass ausgerechnet Oppenheimer vom Sicherheitsdienst der SS benutzt wurde, um Hildes Gesinnungsgenossen auszuschalten.
Und sie kannte eine Menge davon. In ihrer Jugend hatte Hilde wiederholt ihren Onkel besucht und wurde von ihm ganz selbstverständlich in die gehobenen Gesellschaftskreise eingeführt. Schon bald hatte sie herausgefunden, dass die Militärs eine Kaste für sich waren – und ganz besonders galt dies für die Adligen unter ihnen. Doch als aufgeweckte junge Frau machte Hilde auch darüber hinaus viele Bekanntschaften. Weitere Kontakte kamen hinzu, als sie später in Berlin Medizin studierte. Und so fand Hilde viele Gleichgesinnte, die der Ideologie des Faschismus ebenfalls kritisch gegenüberstanden. Seitdem wurde sie gelegentlich zum »diplomatischen Tee« eingeladen und konnte sogar aus Erfahrung einschätzen, wer im Auswärtigen Amt mit den Nazis sympathisierte und wem man vertrauen konnte. Selbst Hildes Ehe mit dem späteren SS-Hauptscharführer Erich Hauser wurde ihr in den Kreisen der Regimegegner nicht zur Last gelegt. Ihren Freunden war klar, dass sie wegen dieser Ehe umso engagierter gegen die nationalsozialistische Idee opponierte. Doch nachdem Ende Januar Helmuth Graf von Moltke aus dem Amt Canaris verhaftet wurde, weil er den Generalkonsul Kiep vor der Verhaftung durch die Gestapo warnen wollte, war Hilde vorsichtig geworden und pflegte nur noch losen Kontakt zu ihren Gesinnungsgenossen. Aber die Dinge hatten sich zugespitzt. Sie spürte, dass sie eingreifen musste, um Schlimmeres zu verhindern, selbst wenn dies heißen sollte, dass sie damit ihre Freundschaft mit Richard aufs Spiel setzte. Jetzt war die Zeit gekommen, ihr Schweigen zu brechen.
Als Hilde in das Nebengebäude gezogen war, hatte sie darauf bestanden, dass in ihrer neuen Wohnung eine Telefonleitung gelegt wurde. So konnte sie sprechen, ohne von den Fremden in ihrem Haus belauscht zu werden. Allerdings war es möglich, dass das Telefon abgehört wurde. Doch mittlerweile war sie eine wahre Meisterin darin, in Codes zu sprechen. Ihre Kontaktleute mussten von Oppenheimers Untersuchung erfahren. Sie hatte schon viel zu lange gezögert. Hilde schob ihre Skrupel beiseite, nahm den Hörer von der Gabel und wählte.
11
Montag, 22. Mai 1944 – Donnerstag, 25. Mai 1944
A m Montag hatte sich Oppenheimer in der Früh zur Abwechslung einmal nicht direkt nach Zehlendorf fahren lassen. Stattdessen stand er bereits vor dem offiziellen Arbeitsbeginn, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, bei Höcker & Söhne an der Hofeinfahrt. Gedankenverloren beobachtete er die frühmorgendliche Straße und kaute dabei auf seiner Zigarettenspitze. Er hoffte inständig, dass sein alter Kriegskamerad Gerd Höcker nicht unverhofft aufkreuzte und ihn in eine belanglose Konversation verstrickte, ehe er die Möglichkeit hatte, mit Fräulein Behringer zu sprechen.
Gerade fuhr ein Lieferwagen mit knatterndem Holzgasgenerator an ihm vorbei, als er sie erblickte. Zwar hatte sie einen Schal um die untere Gesichtshälfte gewickelt, doch ihr aufrechter Gang und die kastanienbraunen Locken unter der schwarzen Baskenmütze waren unverkennbar. Auch sie hatte Oppenheimer bereits entdeckt. Als sie sich näherte, zog sie den Schal nach unten und lächelte ihn an, ihr grellroter Lippenstift war die einzige Farbe im grauen Einerlei des Montagmorgens. »Guten Morgen, Herr Kommissar«, grüßte sie ihn freundlich. »Sind Sie mit der Untersuchung
Weitere Kostenlose Bücher