Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Gilbers
Vom Netzwerk:
Überrascht richtete er sich auf. Er hatte völlig den Voralarm vergessen, der ihn aus den Schlaf gerissen hatte. Nun wurde ihm klar, welch tödlichen Fehler er begangen hatte.
    Obwohl der Himmel diesig war, reflektierten die Tragflächen der Flugzeuge das Sonnenlicht, gleißend helle Flecken, die durch die Luft glitten und direkt auf Oppenheimer zuhielten.
    »Da oben!« war das Einzige, das er noch brüllen konnte. Voglers Kopf tauchte hinter einem Steinhaufen auf. Als er Oppenheimers Fingerzeig folgte und gen Himmel blickte, wurde er bleich. »Diese Idioten! Es hat noch keinen Vollalarm gegeben!«, schrie er aufgebracht. »Kommen Sie! In den Keller!« Er streckte seine Hand aus und zog Oppenheimer durch ein Loch in der Hauswand. Wenige Meter von ihnen entfernt war eine Treppe zu sehen, die in den Keller führte. Oppenheimer glaubte, dort unten eine Tür zu erkennen. Sie stolperten die Stufen hinunter, wirbelten Kalkstaub auf. Das Brummen schwoll an. Vogler drückte auf die Klinke, doch die Tür war verschlossen.
    Als sich Oppenheimer mit aller Wucht dagegenwarf, vibrierte sie nur leicht. Auch Vogler begann, sich gegen die Tür zu werfen. Umsonst.
    Oppenheimer hielt Vogler zurück. »Zusammen!«, brüllte er. Gemeinsam stiegen sie auf die unterste Stufe der Treppe und nahmen Anlauf. Als das Gewicht ihrer beiden Körper auf die Tür traf, erbebte der Rahmen. Schweiß rann über Oppenheimers Stirn.
    »Noch mal!« Voglers Stimme überschlug sich. Die erste Stufe, dann die zweite und Anlauf. Mit voller Wucht rammten sie mit ihren Schultern gegen die Tür. Oppenheimer konnte gerade noch die Hände hochreißen, um seinen Sturz aufzufangen, als das Türblatt nachgab. Er spürte, wie seine Handflächen über den rauhen Boden schürften. Der Aufprall ließ die Luft aus seinen Lungen entweichen. Mit der Seite des Kopfes knallte er gegen ein Hindernis und landete auf dem Bauch. Im gleichen Augenblick führte der Keller einen Tanz auf und schien sich um die eigene Achse zu drehen. Die Gegenstände bekamen ein Eigenleben, Weinflaschen kullerten in alle Richtungen, das ganze Universum schien zu erbeben, als ein feuriger Hauch Oppenheimers Rücken streifte. Oppenheimer glaubte, sich im Zentrum einer Gewitterwolke zu befinden, schutzlos den Naturgewalten ausgeliefert, ein Spiel der Elemente Feuer und Luft, als plötzlich unter ohrenbetäubendem Getöse das Licht um ihn herum verschwand. Die letzte Sinneswahrnehmung war ein grelles Pfeifen in seinem Kopf, und im Hintergrund nahm er das dumpfe Grollen unzähliger fallender Steine wahr.
    Dann wurde es still. Oppenheimer versuchte, seinen Atem zu kontrollieren. Der aufgewirbelte Staub verfing sich in seinen Lungen, er spürte einen Hustenreiz in seiner Kehle. Schnell bedeckte er den Mund mit dem Ärmel seines Mantels und versuchte, durch den Stoff zu atmen.
    Sie waren verschüttet. Ohne jeden Zweifel. Kubikmeter von Steinen türmten sich über ihren Köpfen. Oppenheimer hatte nicht gedacht, dass er auf diese Art sterben würde. Zunächst sträubte sich sein Verstand gegen diese Erkenntnis, doch schließlich akzeptierte er das Unausweichliche und bereitete sich auf seinen Tod vor.

12
    Donnerstag, 25. Mai 1944 – Samstag, 27. Mai 1944
    I rgendwo ertönte Voglers schmerzverzerrte Stimme. Dann hörte Oppenheimer ein furchterregendes Stöhnen, doch ihm war zunächst nicht klar, aus welcher Richtung es kam. Schließlich dachte er, dass er das selbst sein musste. Er konnte nicht sagen, wie lange er ohne Bewusstsein dagelegen hatte, er konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob er überhaupt in Ohnmacht gefallen war. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhandengekommen. Sekunden, Stunden, Tage, dies alles hatte in der Finsternis keine Bedeutung. Lediglich die Tatsache, dass sich mittlerweile der Staub im Kellerraum gelegt hatte, sprach dafür, dass eine gewisse Zeit vergangen war.
    Oppenheimer versuchte, sich zu bewegen. Obwohl seine linke Schulter schmerzte, tastete er die Umgebung ab. Neben seinem Kopf befand sich ein hölzerner Gegenstand. Es war wohl ein Schrank, gegen den er geknallt war. Der Boden war übersät mit scharfkantigen Gegenständen. Er musste Licht machen, sonst würde er sich verletzen. Zitternd steckte er seine rechte Hand in die Innentasche des Anzugs und schaffte es, mit zwei Fingern die Zündhölzer herauszuziehen. Dann überlegte er. Es war durchaus möglich, dass sie im Keller keine Luftzufuhr hatten. In diesem Fall mussten sie Sauerstoff sparen, er durfte das

Weitere Kostenlose Bücher