Germania: Roman (German Edition)
Streichholz nur kurz am Brennen halten. Am besten war es, sich gleich in eine Position zu bringen, in der er einen möglichst guten Überblick hatte. Seine Seitenlage war dafür nicht geeignet.
Ganz sachte rollte sich Oppenheimer auf den Rücken. Dass ihn dabei spitze Gegenstände stachen, ließ sich nicht vermeiden. Vorsichtig streckte er seine Hand in die Höhe. Es gab keinen Widerstand, also war es möglich, sich aufzurichten. Mit etwas Mühe setzte er sich auf und riss eines der Zündhölzer an.
Ein schwacher Lichtschimmer erfüllte den Raum. Sie befanden sich offenbar in einer Vorratskammer. Unzählige zertrümmerte Flaschen zeugten davon, dass der Besitzer ein Weinkenner war. Oppenheimer nahm den schweren Alkoholgeruch der vergossenen Spirituosen wahr. Neben ihm lag Vogler. Wo früher einmal die Eingangstür gewesen war, steckten dessen Beine in einem Geröllhaufen.
Oppenheimer wollte das Zündholz gerade ausblasen, als er eine wichtige Entdeckung machte. Die Flamme flackerte. Es musste also einen Luftzug geben. Zumindest würden sie hier nicht ersticken. Kurz bevor das Feuer erlosch, glaubte Oppenheimer, in einem Winkel des Raumes eine Kerze gesehen zu haben. Er zählte die Zündhölzer in der Schachtel. Elf Stück. Das waren nicht allzu viele, doch wenn er Kerzen fand, würde ein einziges Streichholz ausreichen.
Oppenheimer griff zum Regal und schaffte es, sich daran hochzuziehen. Als er auf den Füßen stand, riss er ein zweites Zündholz an und streckte den Arm aus, damit das Licht weiter in den Raum hineinreichte. Er hatte sich nicht getäuscht. Dort hinten waren weiße Kerzen. Vorsichtig versuchte er, sich zwischen dem Unrat einen Weg zu bahnen. Als er nach ihnen greifen wollte, schrak er unwillkürlich zusammen. Die Kerzen steckten nicht in einem gewöhnlichen Kerzenhalter. Im flackernden Zwielicht erkannte er, dass vor ihm eine siebenarmige Menora stand, eines der wichtigsten Symbole für das Judentum. Schmerz durchzuckte seine Fingerkuppen, als das Zündholz abbrannte. Wieder griffen die Schatten um sich, und der Keller versank in Schwärze, doch das Bild der Menora blieb wie ein Geisterbild in Oppenheimers Kopf. Ist dies ein Zeichen von Gott?
Doch schon nach wenigen Augenblicken setzte sein kritischer Verstand wieder ein, für den er sich immer gerühmt hatte. Die Menora war kein göttliches Zeichen. Sie zeigte lediglich, dass sich SS-Gruppenführer Reithermann skrupellos am Vermögen der früheren Eigentümer bereichert hatte. Sicher hatte man sie längst ins Konzentrationslager abtransportiert.
Als Oppenheimer endlich eine der Kerzen entzündet hatte, wurde ihm klar, dass Reithermann wie eine Made im Speck gelebt hatte. Lebensmittelvorräte waren hier gehortet, unfassbar für Menschen, die sich mehr schlecht als recht mittels Lebensmittelkarten ernähren mussten. Doch Oppenheimer hatte keine Zeit, um den Keller genauer zu inspizieren. Erst musste er sich um Vogler kümmern.
»Können Sie eines der Beine bewegen?«, fragte Oppenheimer.
Vogler schüttelte den Kopf. »Ich habe schon versucht, rauszukommen. Zwecklos.«
Oppenheimer sah, dass Voglers Beine bis fast zum Knie begraben waren. Vorsichtig versuchte er, die Trümmer zu entfernen, doch bis auf ein paar kleine Brocken ließ sich nichts abtragen. Die größeren Steine waren hoffnungslos verkeilt.
»Vielleicht schaffe ich es, Ihre Füße aus den Stiefeln herauszuziehen«, sagte er zu Vogler. »Geben Sie mir Bescheid, wenn die Schmerzen zu groß werden.«
Oppenheimer stellte die Menora ab. Dann bückte er sich und schlang seine Arme um Voglers Oberkörper. Als er mit seinen Füßen einen sicheren Halt gefunden hatte, begann er zu ziehen. Vogler atmete stoßweise. Oppenheimer biss die Zähne zusammen und mobilisierte seine letzten Kräfte. Zentimeter um Zentimeter zog er Vogler zu sich heran. Schließlich gab irgendetwas nach, und Oppenheimer landete auf dem Boden. Vogler fiel auf ihn. Für einige Sekunden lagen beide völlig erschöpft auf dem Boden. Vogler rollte sich von Oppenheimer herunter, damit dieser aufstehen konnte. Voglers Füße waren zu unförmigen Klumpen angeschwollen. Blut war jedoch nicht zu sehen.
»Da lässt sich vorerst nicht viel machen«, sagte Oppenheimer. »Wir haben keine Möglichkeit, sie zu kühlen, damit die Schwellung zurückgeht. Wir können nur hoffen, dass uns jemand ausgräbt.«
»Die Villa war bereits eine Ruine«, sagte Vogler mit fester Stimme. »Wer wird schon darauf kommen, dass vor kurzem jemand
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