Germania: Roman (German Edition)
alles sei ein böser Traum, man würde am nächsten Morgen wieder aufwachen und alles wäre wieder beim Alten. Man wacht auf und am nächsten Tag noch einmal, wieder und immer wieder, doch der böse Traum will nicht enden. Es gibt da ein Geheimnis. Egal, was man tut, über so etwas kommt man nicht hinweg. Man kann es höchstens akzeptieren. Ich denke, ich habe es mit der Zeit geschafft. Dennoch wird es immer eine Leere in unserem Leben geben, die uns an die Verstorbenen erinnert. Besonders wenn« – Oppenheimers Augen wurden feucht, er musste sich räuspern – »wenn man sie geliebt hat. Ich habe nie viele Worte darum gemacht, als sie noch am Leben war. Ich kann nur hoffen, dass Emilia wusste, dass sie geliebt wurde. Es wird für mich keine Möglichkeit mehr geben, es ihr zu sagen oder durch Taten zu beweisen. Ich vermisse sie jeden einzelnen Tag. Vielleicht sehe ich sie ja bald wieder.«
Stille erfüllte den Raum. Für einen Augenblick schien der Luftangriff wie durch Geisterhand ausgesetzt zu haben. Doch es war nur eine Illusion. Als Oppenheimer sich allmählich wieder bewusst wurde, in welcher Umgebung er sich befand, kehrten die Geräusche zurück. Unablässig regneten Metall und Sprengstoff vom Himmel.
Oppenheimer glaubte, geschlafen zu haben. Ein metallisches Klopfen füllte den Raum. Er blickte zu der Kerze in der Menora. Von ihr war nur noch ein brennender Stumpf übrig geblieben. Es musste einige Zeit vergangen sein, doch Oppenheimer konnte nicht einschätzen, wie viel, denn er hatte keine Ahnung, wie schnell so eine Kerze abbrannte. Vielleicht hätte er in der Schule doch besser aufpassen sollen. Mühsam setzte er sich auf und zündete den Docht der nächsten Kerze an. Die Wirkung des Pervitins war verflogen. Wieder packte ein klammes Gefühl seine Eingeweide.
Doch Oppenheimer spürte noch etwas anderes. Sein Magen knurrte. Als er sich umsah, entdeckte er Vogler. Er hatte sich zu den Wasserrohren geschleppt und schlug immer wieder dagegen. Er signalisierte, dass hier unten jemand verschüttet war, für den Fall, dass nach ihnen gesucht werden sollte.
Als er Oppenheimers Blick sah, erklärte er: »Mein Funker weiß, wo wir sind. Vielleicht schickt er jemanden, wenn ich mich nicht zurückmelde.«
Oppenheimer betrachtete die Konservendosen. Es war Zeit, ihren Vorrat anzugreifen. Während er die Dosenreihen auf der Suche nach einem appetitlichen Mahl durchstöberte, entdeckte er ein eingemachtes Eisbein. Es war recht unwahrscheinlich, dass die jüdischen Besitzer dieses Hauses Lebensmittel verwahrten, die nicht koscher waren. Damit war klar, dass Reithermann die Konserven im Keller gehortet hatte. Oppenheimer fragte sich, wo er so viele Dosen hatte auftreiben können, denn sie füllten nicht weniger als zwei große Schränke. Beherzt ergriff er die Dose mit dem Eisbein. Er hatte sowieso noch eine Rechnung mit Gott zu begleichen. Er verstand nicht, warum Gott dies alles hatte zulassen können, nicht nur das, was mit seinem eigenen Volk geschah, sondern auch das Leid, das dieser Krieg mit sich brachte. Das konnte lediglich bedeuten, dass ihm dies alles schlichtweg egal war oder dass er nicht existierte. Oppenheimer fühlte einen großen Zorn auf sich selbst, auf seinen kindlichen Aberglauben, der ihn beim Anblick der Menora übermannt hatte. Schließlich beschloss er, Gott die Stirn zu bieten, indem er die Kaschrut missachtete und das unkoschere Eisbein verspeiste.
Oppenheimer griff nach dem alten Taschenmesser in seiner Brusttasche. Er funktionierte es zu einem Dosenöffner um, indem er immer wieder in den Metallrand stach, bis sich ein Teil des Deckels hochbiegen ließ.
Als er das Eisbein stückchenweise zerschnitt und aß, kam ihn in den Sinn, dass er schon lange nicht mehr so gute Lebensmittel bekommen hatte. Dazu musste er ausgerechnet verschüttet werden. Es war eine verrückte Welt. »Auch was?«, fragte er Vogler, doch dieser schüttelte den Kopf.
In einer schattigen Ecke erblickte Oppenheimer ein Grammophon. Zu essen war an sich schon gut, jedoch mit Musikbegleitung zu essen war noch viel, viel besser.
»Ich mache auch ein bisschen Krach, damit sie uns besser hören«, meinte Oppenheimer und nahm die erstbeste Schallplatte, ohne auf die Beschriftung zu achten. Er erwartete, Marschmusik zu hören, oder vielleicht eine Operettenmelodie. Doch die Klänge, die aus dem Trichter ertönten, waren etwas völlig anderes. Die Musik war eine Botschaft aus einer fernen Vergangenheit. Kurt Gerron und
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