Germania: Roman (German Edition)
begann sich der Sand zu bewegen, das Geröll lockerte sich.
Vogler fuhr zusammen. »Da gräbt jemand!« Dann rief er aus voller Kehle: »Hier ist Hauptsturmführer Vogler! Wir sind hier unten!«
Eine undeutliche Stimme antwortete auf der anderen Seite.
»Schnell, weg damit«, sagte Oppenheimer und begann, die Steine vom Eingang wegzuräumen. Die meisten waren verkeilt, und er benötigte viel Kraft, um sie herauszuziehen. Er achtete nicht darauf, wohin er sie warf, sondern arbeitete immer verbissener. Auch Vogler hatte sich darangemacht, das Geröll wegzuzerren.
Schließlich hörten sie wieder die Stimme. Sie war jetzt so nahe, dass sie verständlich war.
»Hallo! Kriegt ihr da unten Luft?«
»Ja, es geht!«, rief Oppenheimer. »Aber holen Sie uns hier heraus!«
»Wird noch een bissken dauern!«, kam es gedämpft von draußen. »Verstärkung ist schon anjefordert!«
Während der nächsten zwei Stunden waren sie damit beschäftigt, die Steine zu entfernen. In Oppenheimers Schultergelenk begann es zu ziehen, und seine Muskeln fingen an zu rebellieren, doch er ließ nicht locker, grub immer weitere Trümmer aus, scharrte mit bloßen Händen im Geröll, bis die Fingernägel eingerissen und die Handflächen aufgeschürft waren. Bald war die Luft voller Staub, doch Oppenheimer und Vogler kümmerten sich nicht um den Hustenreiz, sondern wühlten sich immer weiter in den Schutthaufen hinein.
Plötzlich fielen ihnen Steine entgegen. Ein Lichtstrahl zerschnitt die Schatten, und ein Windhauch zog durch den Raum und vertrieb den Staub. Oppenheimer erblickte jemanden. Aus halb zugekniffenen Augen erkannte er den alten Mann, den sie vor der Villa getroffen hatten und der zufrieden grinste.
»Hab ich mir doch jedacht, dassa hier unten seid«, rief er. »Sonst hättet ihr dit Auto nich stehn lassen!«
Sie räumten noch ein paar Steine beiseite, dann konnten sie durch das Loch hinausgezogen werden. Starke Hände packten Oppenheimer an den Handgelenken. Es waren zwei Männer in Feuerwehruniformen. Aus dem Keller befreit, bemerkte Oppenheimer, dass die beiden noch nicht mal einen Bart hatten. Er schätzte sie auf zwölf bis fünfzehn Jahre. Ihre Väter waren wohl im Krieg, und so mussten sie deren Plätze ausfüllen.
»Vielen Dank«, sagte Oppenheimer erschöpft und klopfte den Staub von seinem Mantel.
»Was ist heute für ein Tag?«, fragte Vogler, als er in einer Ecke des zerstörten Treppenhauses auf einem Schuttberg saß.
»Samstag«, sagte der Alte. »Morgen is Pfingsten. Da seid ihr noch rechtzeitig vor den Feiertagen rausjekommen. Ihr wart fuffzich Stunden verschüttet.«
Fünfzig Stunden, dachte Oppenheimer entsetzt. Mehr als zwei Tage, die verloren waren. Vielleicht hatte der verrückte Mörder wieder zugeschlagen, und sie hatten ihn nicht aufhalten können, weil sie unter diesen Steinmassen um ihr Leben kämpfen mussten.
»Sie müssen zum Arzt«, sagte Oppenheimer zu Vogler. »Dann werde ich die Untersuchung fortsetzen. Können Sie stehen?«
Vogler versuchte es. Gestützt auf die beiden jungen Feuerwehrmänner, schaffte er es bis zum Wagen. Nachdem sie ihn auf den Beifahrersitz bugsiert hatten, setzte sich Oppenheimer hinter das Lenkrad und steckte den Schlüssel ins Zündschloss.
»Meinen Sie, Sie können jetzt fahren?«, erkundigte sich einer der Jungen.
»Hat jemand von euch einen Führerschein?«, fragte Oppenheimer.
Peinlich berührt senkten sie die Köpfe.
»Ick kann nur Fahrrad fahrn«, meinte der Alte.
»Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig«, schloss Oppenheimer. Doch noch ehe er den Wagen angelassen hatte, war ihm ein Gedanke gekommen. »Tja, eigentlich weiß ich nicht, ob ich darf«, murmelte er.
»Was?«, wollte Vogler wissen. »Was dürfen Sie nicht?«
»Auto fahren. Es ist so: Als Jude wurde mir der Führerschein entzogen. Offiziell darf ich dieses Fahrzeug nicht führen.«
Vogler stöhnte genervt auf und knurrte dann: »Fahren Sie einfach!«
Während sie zum nächsten Krankenhaus fuhren, pfiff Vogler den Kanonensong. Oppenheimer grinste verstohlen, als er darüber nachdachte, dass man den Feinden des gesunden deutschen Volksempfindens wohl eines lassen musste: Sie konnten gute Melodien schreiben.
13
Samstag, 27. Mai 1944 – Sonntag, 28. Mai 1944
A ls er Vogler zum Städtischen Krankenhaus an der Landsberger Allee gebracht hatte, fühlte Oppenheimer eine gewisse Unruhe. Er wollte nicht untätig sein. Geschickt rang er dem Hauptsturmführer die Einwilligung ab, das Auto über
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