Germania: Roman (German Edition)
die Feiertage ausborgen zu dürfen. So war er auch ohne Hoffmann mobil. Wenn ihn ein Verkehrspolizist oder ein Parteisoldat anhielt, was aufgrund des SS-Nummernschilds jedoch unwahrscheinlich war, sollte er sich auf Vogler berufen. Oppenheimer wusste, dass er nirgends tanken konnte. Benzin war knapp, Privatleute bekamen es schon gar nicht. Doch der Tank war noch zur Hälfte gefüllt, das musste für die nächsten Tage reichen.
Oppenheimer war schmerzlich bewusst geworden, dass ihm Fahrpraxis fehlte. Also fuhr er etwas langsamer und hoffte, keinen Unfall zu verursachen. Er war bereits auf dem Weg nach Zehlendorf, als er seinen Plan änderte und zum Judenhaus fuhr. Lisa hatte ihn seit zwei Tagen nicht mehr gesehen und würde sich bestimmt Sorgen machen. Doch als er nach Hause kam, fand er sie nicht vor. Ratlos stand Oppenheimer in der Küche. Dann riss er ein Blatt Papier aus seinem Notizheft und kritzelte die kurze Nachricht darauf, dass er in Ordnung war und in drei Stunden wieder zurück sein würde. Das war genügend Zeit, um zumindest in Kreuzberg den Fundort des zweiten Opfers zu begutachten.
Die rechte Hand des steinernen Giganten war zur Faust geballt und lag auf seinem Oberschenkel, während er die Linke auf die Brust gepresst hatte. Von seinem Sockel aus starrte der Hüne zu Boden. In seinem Blickfeld befand sich genau jene Stelle, an der man vor fast fünfzehn Wochen die sterblichen Überreste von Julie Dufour gefunden hatte. Für Oppenheimer sah es fast so aus, als sei der grimmige Ausdruck, den die Schatten auf das Gesicht der Statue zeichneten, ein Kommentar zu dieser barbarischen Tat, doch die Inschrift auf dem Sockel machte deutlich, dass es die Gefallenen im letzten Weltkrieg waren, um die der Riese trauerte. Früher mochte zu seinen Füßen Rasen gewesen sein, jetzt wuchsen dort Karotten. Die Versorgung der Stadtbevölkerung mit Lebensmitteln war so schlecht, dass mittlerweile jedes Fleckchen Grün zweckentfremdet wurde, um Gemüse anzubauen. Auch an dieser Stelle sprossen überall die grünen Blätter der Mohrrüben aus dem Boden, so dass man nicht mehr erahnen konnte, dass hier vor wenigen Monaten eine Tote gelegen hatte.
Ein betrunkener Orchestermusiker war in den frühen Morgenstunden über den Platz getorkelt und dabei über die Leiche von Fräulein Dufour gestolpert. Als er in seiner Benommenheit schließlich erkannt hatte, worüber er gefallen war, packte ihn grenzenloses Entsetzen. Eilig wankte er zur nächstbesten Haustür und klingelte die Anwohner aus dem Schlaf. Es hatte einige Zeit gedauert, bis sich der Betrunkene verständlich machen konnte. Nachdem sich jedoch zwei Herren vergewissert hatten, dass sein Gefasel der Wahrheit entsprach und dort wirklich eine grausam zugerichtete Frau lag, verständigten sie die Polizei.
Oppenheimer hatte das Protokoll sorgfältig gelesen. Einen Täter hatte der Betrunkene nicht gesehen. Die damals ermittelnden Beamten vom SD hatten ihn sogar ausdrücklich befragt, ob er in der Nähe ein verdächtiges Fahrzeug bemerkt hatte. Doch der Alkohol hatte den Verstand des Mannes dermaßen vernebelt, dass er als Zeuge wertlos war.
Als Oppenheimer, vor dem Denkmal stehend, die umliegenden Häuserreihen betrachtete, registrierte er einige Ähnlichkeiten zu dem Fundort in Oberschöneweide. Wieder wurde der Blick auf die Leiche durch dichte Baumkronen versperrt. Es war zweifellos ein leichtes Spiel gewesen, das Fahrzeug in der Nähe zu parken und die tote Frau unbeobachtet die wenigen Meter bis zum Fundort zu tragen. Nach Norden hin verbarg das steinerne Monument das Treiben des Mörders, während man in Richtung Süden die breite Baerwaldstraße entlangblickte. Obwohl der Mörder die Leiche mitten in Berlin abgelegt hatte, war genau an dieser Stelle die Gefahr verhältnismäßig gering, dabei ertappt zu werden. Es war der perfekte Ort, um sich einer Toten zu entledigen. Oppenheimer fragte sich, ob es nur ein Zufall war, dass hier ebenfalls ein Kriegsdenkmal stand, doch als er an die beiden anderen Fundorte dachte, verwarf er diese Hypothese. Auch in Oberschöneweide und in Marienfelde hatte der Mörder die Frauenleichen vor Gedenksteinen präsentiert. In der Stadt und Umgebung gab es unzählige davon. Der Täter hatte sich problemlos diejenigen aussuchen können, die seinen Vorstellungen entsprachen. Dies bedeutete gleichzeitig, dass er zumindest eine gewisse Zeit im Voraus plante. Er beging seine Taten nicht im Affekt, wie es Großmann getan hatte. Demzufolge
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