Germania: Roman (German Edition)
Willy Trenk-Trebitsch sangen den Kanonensong. Oppenheimer hatte die Dreigroschenoper schon fast vergessen. Die Partei hatte für Kurt Weills Musik nur Abscheu übrig, erachtete sie als entartet. Und da der Textdichter in diesem Fall Bert Brecht hieß, der offen mit den Kommunisten sympathisierte, musste das Werk zwangsläufig auf dem Index landen. Es war sehr schade, denn Oppenheimer gefiel die Musik. Sie erinnerte ihn mit ihrem hektischen Rhythmus an das Berlin der zwanziger Jahre. Damals war die Stadt noch laut, vulgär, schmutzig, frech und aufreizend gewesen. Obwohl ihr glitzernder Schein in Wirklichkeit vielleicht nur billiges Lametta war, hatte er bis weit über die Landesgrenzen hinaus gestrahlt. Die Leute lebten damals ein Leben auf der Schnellstraße und jagten mit Vollgas in den Abgrund der Weltwirtschaftskrise. Nun war die Stadt Berlin nur noch ein Schatten ihrer selbst. Das Gefühl, am Puls der Zeit zu sitzen, am Nabel der Welt, war verschwunden. Jetzt war die Stadt bestenfalls der Nabel des Tausendjährigen Reiches, und es gab nur noch eine Farbe in diesem grauen Einerlei, das Rot der Hakenkreuzfahne.
Von Oppenheimers Erinnerung an die junge, ungestüme Stadt Berlin hatte schon Voglers Generation keine Ahnung mehr. Doch zumindest die Musik dieser Ära schien ihm ebenfalls zu gefallen. Lächelnd klopfte er den Takt auf den Wasserrohren mit. Er rief zu Oppenheimer hinüber: »Was ist das? Das habe ich ja noch nie gehört! Haha!«
Oppenheimer blieb der Bissen Eisbein fast im Hals stecken. Wenn er so darüber nachdachte, dann war er in einer interessanten Lage. Er saß mit einem SS-Mann zusammen, verschüttet unter Tonnen von Geröll, und hörte sich ausgerechnet die Musik von einem jüdischen Komponisten und einem linken Dichter an. Konnte man das als Wehrkraftzersetzung deuten? Nun, zumindest konnte Oppenheimer behaupten, dass er hier unten keine anderen Schallplatten gefunden hatte. »Soldaten wooohnen, auf den Kanooonen«, krächzte es durch den Raum. Es dauerte nicht lang, und auch Vogler sang den Refrain mit.
Als Oppenheimer das Eisbein vertilgt hatte, begutachtete er die anderen Schallplatten, doch er konnte beim besten Willen nichts finden, was das sogenannte deutsche Volksempfinden nicht unterminiert hätte. Mit der Zeit empfand Oppenheimer eine geradezu perfide Freude daran, Vogler mit nichtkonformer Musik zu berieseln. Er wechselte von einem Song der Dreigroschenoper zum anderen. Dem Lied von der Seeräuber-Jenny folgte die Ballade vom angenehmen Leben, dem wiederum folgte das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens. Vogler schien nicht auf die Texte zu achten. Nur den Refrain des Kanonensongs grölte er immer wieder ausgelassen mit. Oppenheimer hegte den unguten Verdacht, dass Vogler die satirische Absicht dieses Lieds nicht erkannte.
Nach ein paar Stunden wechselten sie sich ab. Während Oppenheimer an der Wasserleitung klopfte, übernahm Vogler das Grammophon. Gerade hob er den Tonarm von der Schallplatte, als das Bleirohr unter Oppenheimers Händen leicht vibrierte und ein helles Klopfen zu hören war. Die beiden Männer fuhren zusammen. Jemand an der Oberfläche war auf sie aufmerksam geworden.
»Hallo!«, brüllte Oppenheimer und schlug gegen das Rohr. Dann lauschte er an der Leitung. Wieder klopfte jemand am anderen Ende.
Oppenheimer klopfte zwei Mal.
Von oben kamen zwei Klopfzeichen als Antwort zurück.
»Sie haben uns gefunden«, flüsterte Oppenheimer. Vogler schob sich in Richtung des Wasserrohrs und horchte ebenfalls angestrengt.
»Wir sind hier unten!«, rief Oppenheimer. Er hoffte, dass das Rohr die Schallwellen übertrug.
Leise hörte er im Rohr so etwas wie: »Hallo?«
»Im Keller!«, brüllte er. »Der Eingang ist verschüttet! Bei der Treppe!«
Es folgte ein Geräusch, das er nicht zuordnen konnte. Danach kam nichts mehr.
»Hallo?«, schrie Vogler.
Nichts.
»Verflixt und zugenäht, die können doch nicht so einfach wieder verschwinden!«, regte sich Oppenheimer auf. Erneut schlug er gegen das Rohr. Nichts.
»Warten Sie«, sagte Vogler. Er nahm einen Steinbrocken in die Hand und schlug mit der spitzen Kante auf das Rohr. Nur wenige Schläge, dann klaffte ein Loch in der Wasserleitung.
»Hallo!«, rief Vogler durch das Rohr. Keine Antwort.
»Das kann doch nicht …«, begann er, sprach den Satz aber nicht zu Ende.
In Richtung der verschütteten Türöffnung war etwas zu hören – ein leises Scharren. Gebannt starrten sie hinüber. Unmerklich
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