Germania: Roman (German Edition)
verwickelt sein konnte.
Oppenheimer räumte allerdings ein, dass es vielleicht nur seine Antipathie gegen Goldfasane wie Reithermann war, die ihn zu diesem Verdacht veranlasste. Doch einige Details gaben ihm zu denken. Reithermanns Leben schien nur darin zu bestehen, zu konsumieren. Wenn er Voglers Bemerkungen richtig interpretierte, dann verschaffte Reithermann sich über zwielichtige Quellen Kunstgegenstände aus den Ländern, in die die Nationalsozialisten einmarschierten. Seine Bemerkungen über Fräulein Dufour und über Frauen im Allgemeinen hatten Oppenheimer aufhorchen lassen. War es möglich, dass Reithermann Frauen nur als Gegenstände betrachtete, von denen er möglichst viele Exemplare in sein Bett kriegen wollte? Mit anderen Worten, konsumierte er Menschen? Wenn er sie nur als Objekte betrachtete, könnte er es dann nicht auch als Kavaliersdelikt ansehen, wenn er eine Frau umbrachte? Oder ging es bei ihm sogar so weit, dass er Frauen insgeheim verachtete?
Nach einigem Überlegen merkte Oppenheimer selbst, dass dieser Gedankengang an den Haaren herbeigezogen war. Die meisten Männer hatten zweifelsohne eine ähnliche Einstellung zum weiblichen Geschlecht. Dass Reithermann keine romantische Ader besaß, hieß noch lange nicht, dass er der Mörder sein musste. Außerdem hatte er die Untersuchung überhaupt erst ins Rollen gebracht. Wenn er für die Morde verantwortlich war, dann wäre das ein schwerverständliches Verhalten. Oder war alles vielleicht nur ein perfides Spiel? Hatte er die SS etwa beauftragt, einen Sündenbock für seine eigenen Taten zu suchen, in der Gewissheit, dass ihn sowieso niemand verdächtigen würde?
Alle Männer, die mit dem Fall zu tun hatten und über vierzig Jahre alt waren, hatte Oppenheimer um die Namen der Toten gruppiert. Er wollte Reithermanns Zettel schon in diesen Kreis heften, als er sich anders entschied. Er rückte den Zettel ein wenig näher in die Mitte.
Oppenheimer war immer noch in Gedanken, als Schritte die Kellertreppe heraufpolterten. Irgendwo rief Vogler aufgeregt: »Oppenheimer! Wir müssen los!«
Fragend blickte er sich um. Vogler humpelte hektisch zur Garderobe und warf sich seinen Mantel über die Schultern. »Wir müssen in die Zimmerstraße. Jetzt sofort! Es ist unfassbar, aber wir haben eine Meldung von diesem Schweinehund!«
Oppenheimer verstand zunächst nicht, was er meinte. Doch als ihm klarwurde, dass Vogler von dem Mörder sprach, raste sein Herz.
Voglers Stimme überschlug sich. »Dieser Kerl hat doch tatsächlich einen Brief geschrieben!«
15
Mittwoch, 31. Mai 1944 – Freitag, 2. Juni 1944
D ie Tageszeitung mit dem Namen Der Angriff war keine gewöhnliche Publikation. Selbst als die Presse auf Geheiß des Propagandaministers Goebbels schon längst gleichgeschaltet war, ließen sich an den Zeitungskiosken immer noch mehrere Kampfblätter der Bewegung finden. Jede der großen Parteiorganisationen besaß eine eigene Zeitung, von der SS bis zur Deutschen Arbeitsfront.
Die Kampfblätter unterschieden sich durchaus von der bürgerlich-konservativen Presse. Das wichtigste unter ihnen war der Völkische Beobachter. Dieses offizielle Organ der NSDAP war an den Zeitungskiosken kaum zu übersehen. Die Titelseiten waren in großen Lettern gesetzt, die schrillen Schlagzeilen in den Farben Rot und Schwarz sprangen ins Auge. Der Völkische Beobachter besaß darüber hinaus den Vorteil, dass man nicht so viel lesen musste, da ein großer Teil der Zeitungsseiten durch Photos und Illustrationen ausgefüllt wurde.
Ein weiteres Blatt mit außerordentlicher Popularität war Der Stürmer. Eigentlich gab es in ihm nur ein einziges Thema: die jüdische Weltverschwörung. Das Hauptanliegen war die Agitation gegen diese sogenannten Untermenschen und Volksschädlinge. Dementsprechend gehörten dort rabiat antisemitische Appelle zur Ausrottung alles Jüdischen zur Norm. Diese Publikation hatte weit mehr regelmäßige Leser, als ihre Auflage vermuten ließ, da in den Großstädten an jeder zweiten Ecke die sogenannten Stürmerkästen standen, spezielle Schaukästen, in denen die Volksgenossen das Blatt gratis lesen konnten. Sehr beliebt war es vor allem zu der Zeit, als in der Kolumne Der Pranger noch mit voller Namensnennung Leute denunziert wurden, die Umgang mit Juden pflegten oder von denen gemunkelt wurde, Rassenschande zu begehen. Einen großen Teil nahm die Beschreibung eben jener unsittlichen Handlungen ein. Der Stürmer gefiel sich darin, schmuddelige
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