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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Gilbers
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traf, nie kennengelernt und kannte nur die Spitznamen, die Christina Gerdeler ihnen verpasst hatte.
    Es war zehn Uhr vormittags, als Fräulein Ebner ihn in einem abgewetzten Kimono und mit schwarzen Strümpfen voller Laufmaschen empfangen hatte. Doch ihre tadellos toupierte Frisur widerlegte die Vermutung, dass er sie geweckt hatte. Sie war etwa im gleichen Alter wie Fräulein Gerdeler, wog aber schätzungsweise zwanzig Kilo weniger. Oppenheimer fragte sich, welcher Beschäftigung eine solch zierliche Frau wohl in einem Rüstungsbetrieb nachgehen konnte.
    »Einen Moment«, sagte sie und stellte das Radio lauter. Es waren die Nachrichten. Schon die ganze Zeit über hatte sich Fräulein Ebner kaum auf Oppenheimers Fragen konzentrieren können. Sie wirkte seltsam fahrig, verfolgte stets das Radioprogramm. Eine ähnliche Befragung hatte er in all seinen Dienstjahren bei der Polizei noch nicht erlebt. Lizzi Ebner erweckte den Eindruck, ständig auf dem Sprung zu sein.
    »Darf ich wissen, was so wichtig am Radioprogramm ist?«, fragte Oppenheimer schließlich ungehalten.
    Fräulein Ebner blickte ihn an, als habe sie seine Anwesenheit völlig vergessen. »Na, ick wollte nur hören, ob se wat von der Invasion sagen«, erwiderte sie und wandte sich dann wieder dem Apparat zu.
    Selbst wenn die Parteigenossen den Gedanken an eine Invasion wie einen schlechten Scherz abzutun pflegten, hatten sie es nicht verhindern können, dass mittlerweile das gesamte Volk von der Invasionitis befallen war. Oppenheimer hingegen hatte den Glauben daran langsam aufgegeben. Er wunderte sich, dass sogar eine junge Dame wie Fräulein Ebner von dieser Hysterie gepackt werden konnte.
    »Gibt es denn etwas Neues?«, fragte Oppenheimer ohne wirkliches Interesse. »Haben unsere Truppen etwa wieder ein Bauwerk am Atlantikwall fertiggestellt?«
    Fräulein Ebner riss ihre Augen weit auf. »Na haben Sie’s noch nich jehört? Heute Nacht sind se jelandet!«
    Oppenheimer sprang von seinem Stuhl auf. »Was? Wo haben Sie das her?«
    »Ick weeß dit authentisch. Mein Nachbar, der Herr Blank, hat et mir jesagt. Vor ein paar Stunden hat er hier anjeklopft. Ick dachte schon, wat hat der denn?«
    Jetzt schenkte auch Oppenheimer der Radiodurchsage größere Aufmerksamkeit. Doch als wieder Musik erklang, hatte der Sprecher nichts von einer Invasion erwähnt.
    »Sind Sie sicher, dass das stimmt?«, fragte er.
    »Nee, dit wird schon stimmen. Der Blank arbeitet bei der Zeitung. Der weeß als Erster Bescheid, sobald wat jeschieht.«
    Eine große Unruhe hatte Oppenheimer erfasst. »Wenn das wahr wäre«, begann er, sprach den Satz aber nicht zu Ende. Er wusste schließlich nicht, auf welcher Seite Fräulein Ebner stand.
    »Schlechter Tag für den Gröfaz «, murmelte Fräulein Ebner und meinte damit Adolf Hitler. Als sie bemerkte, dass ihr der inoffizielle Spitzname für den Größten Feldherrn aller Zeiten über die Lippen gekommen war, den ihm die Berliner verpasst hatten, fuhr sie zusammen. »Ick meene natürlich, ähm …«, stammelte sie schuldbewusst.
    Oppenheimer musste grinsen. »Ich glaube, mit Ihnen kann ich deutsch reden!« Daraufhin lächelte auch Fräulein Ebner erleichtert.
    »Ich habe nichts mit den Nazis zu tun«, erklärte er, während er sich vertraulich zu ihr vorbeugte. »Ich will nur aufklären, was mit Ihrer Freundin passiert ist. Wenn Sie jemanden von der Partei verdächtigen, brauchen Sie keine Angst zu haben, es mir zu sagen. Ich werde es nicht melden. Niemand wird etwas davon erfahren. Ich brauche nur einen Anhaltspunkt.«
    Fräulein Ebner blickte ihn schon fast flehentlich an. »Na ick will doch ooch, dass Se diesen Schweinehund fangen, der dit anjestellt hat. Ick würde ja nix lieber tun, als Ihnen zu helfen, Herr Kommissar. Aber ick weeß nun mal nüscht.«

    Es gab noch so viele Fragen, die Oppenheimer Fräulein Ebner stellen wollte, doch er musste schließlich einsehen, dass es keinen Zweck hatte.
    Nach einer halben Stunde verabschiedete sich Oppenheimer. Zunächst hatte er es nicht zugeben wollen, doch seit der Nachricht von der Invasion hatte er Mühe, sich auf die Vernehmung zu konzentrieren. Stattdessen beschäftigte ihn die Frage, ob die Amerikaner und Briten endlich angegriffen hatten. Als Erstes lief er zum Bahnhof Friedrichstraße. Schon auf dem Hinweg zu Fräulein Ebner hatte er gesehen, dass dort auffällig viele Leute an den Zeitungskiosken standen und sich nach der Tageszeitung erkundigten. Jetzt begriff er endlich, was vor sich

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