Germania: Roman (German Edition)
ging.
Als er zum Bahnhof kam, standen die Leute immer noch vor den Kiosken. »Was ist los? Gibt es etwa keine Zeitung?«, fragte Oppenheimer.
Ein Mann in der Schlange drehte sich um und zuckte mit den Schultern. »Nee, noch nichts da. Ick warte ooch schon die janze Zeit.«
»Da vorne kommen sie«, raunte jemand. Oppenheimer konnte zunächst nichts erkennen, doch dann hörte er das Knattern eines Lieferwagens. Das Fahrzeug hielt an, und ein Junge warf von der Ladefläche vier Zeitungsbündel auf den Bürgersteig. Die Leute wurden unruhig. Endlich waren die Tageszeitungen da. Der Besitzer des Kiosks wuchtete den ersten Stapel auf seinen Tresen, um die Verschnürung aufzuschneiden. Gerade zückte er das Taschenmesser, als an seiner Seite schon zwei Polizisten erschienen.
»Die sind beschlagnahmt«, erklärte einer von ihnen und packte mit festem Griff zwei der Bündel. Sein Kollege nahm die anderen beiden Zeitungspakete. Dann entfernten sie sich.
Die Leute murrten. Auch Oppenheimer verspürte Unmut. Beinahe hätte er eine Zeitung in seinen Händen gehalten, hätte gesehen, was auf der Titelseite stand. Es war wie Heiligabend ohne Bescherung.
»So’n Mist!«, regte sich jemand in Oppenheimers unmittelbarer Nähe auf. »Warum haben sie die Zeitungen nicht direkt beim Verlag beschlagnahmt?« Der angesprochene Mann zuckte nur ratlos mit den Schultern.
»Ist mir völlig schnuppe, wat vorne druff is«, sagte der Mann grollend. »Wenigstens den hinteren Teil hätten se dalassen können. Ick will nur wissen, wie der Roman weiterjeht! Abenteuer auf den Lofoten heißt er . Müssen Se lesen, faszinierend.«
Als Oppenheimer seinen Fahrer befragte, bestätigte Hoffmann, dass bei Morgengrauen in der Normandie die Invasion begonnen hatte. Sein ohnehin schon melancholischer Blick war noch eine Spur trauriger. Oppenheimer hingegen war wie elektrisiert. Die Ungewissheit hatte ein Ende. Wenn der Angriff Erfolg hatte, dann gab es im Westen wieder eine Frontlinie, und Deutschland wäre eingekesselt. Vom Osten her rückten die Russen vor, und in Italien saßen mittlerweile die Amerikaner. Er musste Fräulein Ebner zustimmen. Es war wirklich kein guter Tag für den Gröfaz.
Oppenheimer konnte jetzt einfach nicht zurück nach Zehlendorf fahren und im stillen Kämmerlein sitzen. Er entschuldigte sich bei Hoffmann mit der Begründung, dass er beschlossen habe, daheim zu Mittag zu essen, und gab ihm die Anweisung, ihn in zwei Stunden wieder abzuholen. Hoffmann schien dies sehr gelegen zu kommen. Ohne abzuwarten, startete er sein Motorrad und raste in halsbrecherischem Tempo die Friedrichstraße entlang. Oppenheimer vermutete, dass er wohl jemanden hatte, dem er die Nachricht von der Invasion mitteilen wollte.
Die Innenstadt pulsierte vor Leben. Dass jetzt Zeit zum Mittagessen war, war nicht der einzige Grund. Etwas lag in der Luft. Es war nicht genau zu definieren und doch fast mit Händen greifbar. Die Menschen hatten etwas gewittert. Oppenheimer ging in Richtung Unter den Linden und fühlte sich wieder wie ein zwölfjähriger Bub zu Beginn der großen Sommerferien. Er wollte Bäume ausreißen, in die Höhe springen, durch das Brandenburger Tor jubelnd zu seiner Wohnung rennen. Die Welt schien plötzlich zu klein zu sein für die Energie, die sich in den letzten Jahren des Wartens in ihm aufgestaut hatte. Hoppla, jetzt komm ich, dachte Oppenheimer, genau wie es Hans Albers vor etlichen Jahren in dem Film mit den Comedian Harmonists gesungen hatte.
Doch Oppenheimer riss keine Bäume aus. Er jubelte nicht. Und erst recht hütete er sich davor, durchs Brandenburger Tor zu rennen. Für eine derartige politische Demonstration hätte die Gestapo ihn sicher sofort in Oranienburg eingebuchtet, Vogler hin oder her. Als er nach Hause lief, musste er sich arg zusammenreißen, um seine Schadenfreude nicht zu zeigen. Auf der Straße begegnete er etlichen Leuten, denen es ähnlich zu ergehen schien. Unverhohlenes Grinsen hatte sich unter den Passanten breitgemacht. Nur die unbeirrbaren Parteimitglieder mit der sogenannten Wollhandkrabbe am Revers, dem Parteiabzeichen der NSDAP, eilten verstört durch die Straßen.
Oppenheimer bog nach rechts ab auf die Ost-West-Achse. Er kam am Adlon vorbei, nahm sich seit Ewigkeiten wieder die Zeit, zu der in Bronze erstarrten Siegesgöttin emporzublicken, deren Wagen hoch oben auf dem Brandenburger Tor von vier Pferden in Richtung Stadtmitte gezogen wurde. Er kam am Torhaus vorbei, in dem der Kriegsgott Mars
Weitere Kostenlose Bücher