Germinal
schreibkundigen Nachbarn im Arbeiterdorfe vervielfältigen lassen, und man versandte die Briefe nach den Schächten, an die Delegierten des Vereines und an Männer, deren man sicher war. Die eingestandene Tagesordnung war die Beratung über die Fortsetzung des Streikes; aber in Wirklichkeit erwartete man Pluchart; man rechnete auf eine Rede von ihm, um einen Massenbeitritt zur »Internationale« herbeizuführen.
Am Donnerstag Morgen ward Etienne von Unruhe ergriffen, als er seinen ehemaligen Werkmeister nicht ankommen sah, der telegraphisch versprochen hatte, am Mittwoch Abend da zu sein. Was ging denn vor? Etienne war trostlos, sich nicht vor der Sitzung mit ihm besprochen zu können. Um neun Uhr begab er sich nach Montsou, in der Hoffnung, daß der Mechaniker geradewegs dahin gegangen war, ohne im Voreux anzuhalten.
»Nein, ich habe Ihren Freund nicht gesehen«, antwortete ihm die Witwe Désir. »Aber alles ist bereit; kommen Sie nachschauen.«
Sie führte ihn in den Ballsaal. Seine Ausschmückung war die frühere geblieben; ein Laubgewinde, das an der Decke eine Krone von Buntpapier trug; an den Wänden Wappenschilder von vergoldetem Karton mit den Namen von männlichen und weiblichen Heiligen. Die Erhöhung für die Musiker in einem Winkel des Saales war durch einen Tisch und drei Sessel ersetzt; davor waren mehrere Bänke querüber aufgestellt.
»Sehr gut«, erklärte Etienne.
»Um es euch nur zu sagen, ihr seid zu Hause,« fuhr die Witwe fort; »schreit, soviel ihr wollt ... Die Gendarmen müssen mir über den Leib, wenn sie kommen.«
Trotz seiner Unruhe konnte er ein Lächeln nicht unterdrücken, als er sie betrachtete, so umfangreich fand er sie, mit einem Paar Brüste, deren eine schon einen ganzen Mann erforderte, um umfangen zu werden; man erzählte denn auch, daß sie von ihren sechs Verehrern jetzt allabendlich zwei nehme -- wegen der Arbeit.
Doch jetzt sah Etienne zu seinem Erstaunen Rasseneur und Suwarin eintreten. Als die Witwe die drei Männer in dem großen, leeren Saale allein gelassen hatte, rief er:
»Wie, ihr seid schon da?«
Suwarin, der in der Nacht im Voreuxschachte gearbeitet hatte, weil die Maschinisten sich am Streik nicht beteiligten, war aus bloßer Neugierde gekommen. Rasseneur schien seit zwei Tagen in Verlegenheit zu sein; sein dickes, rundes Gesicht hatte sein gemütliches Lächeln verloren.
»Pluchart ist nicht angekommen, ich bin sehr unruhig«, fügte Etienne hinzu.
Der Schankwirt wandte die Augen ab und brummte zwischen den Zähnen:
»Das nimmt mich nicht wunder; ich erwarte ihn nicht mehr.«
»Wieso?«
Da entschloß er sich, schaute dem andern ins Gesicht und erwiderte freimütig:
»Um es dir nur zu sagen, auch ich habe ihm einen Brief geschrieben und ihn gebeten, nicht zu kommen... ja ich finde, daß wir unsere Angelegenheiten selbst besorgen müssen, ohne uns an die Fremden zu wenden.«
Etienne geriet außer sich vor Zorn; dem andern fest in die Augen schauend, rief er ein um das andere Mal:
»Du hast das getan, du hast das getan!«
»Jawohl, ich habe das getan; und doch weißt du, wie sehr ich zu Pluchart Vertrauen habe. Es ist ein feiner Kopf, dem man sich anvertrauen darf. Allein, siehst du, ich pfeife auf die Gedanken. Die Politik, die Regierung: sie sind mir schnuppe. Ich wünsche, daß der Bergmann besser behandelt werde. Zwanzig Jahre habe ich in der Grube gearbeitet und daselbst soviel Not und Mühsal gelitten, daß ich geschworen habe, Erleichterungen für die armen Teufel zu erringen, die verurteilt sind, noch weiter dort zu leben; und ich habe das Gefühl, daß ihr mit allen euren Geschichten nichts erreichen, vielmehr das Los des Arbeiters noch verschlechtern werdet... Wenn er durch den Hunger genötigt wird, wieder anzufahren, wird man ihn noch mehr schinden, die Gesellschaft wird ihn mit Hieben traktieren wie einen verlaufenen Hund, den man in sein Loch zurückjagt... Das will ich verhindern, verstehst du?«
Er erhob die Stimme und streckte den Bauch heraus, fest auf seinen dicken Beinen stehend. Die Art eines vernünftigen, geduldigen Menschen äußerte sich in klaren Sätzen, die reichlich und ohne Anstrengung hervorsprudelten. Sei es nicht blöd zu glauben, daß man mit einem Schlage die Welt ändern, die Arbeiter an Stelle der Arbeitgeber setzen, das Geld teilen könne, wie man einen Apfel teilt? Es brauche vielleicht tausende und abertausende von Jahren, bis das zur Wirklichkeit werde. Darum solle man ihn mit solchen Wundern zufrieden
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