Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
Vom Netzwerk:
lassen. Wolle man sich nicht den Kopf anrennen, so sei es das Beste, geradeaus zu gehen, möglichere Formen zu verlangen, kurz das Schicksal der Arbeiter bei allen Gelegenheiten zu verbessern. Wenn er sich mit der Sache beschäftige, bemühe er sich, die Gesellschaft zu besseren Bedingungen zu bewegen; durch den Trotz werde man nur dahin kommen, daß alle Hungers verrecken.
    Etienne hatte ihn reden lassen; die Entrüstung schnürte ihm die Kehle zu. Endlich rief er aus:
    »Hast du denn kein Blut in den Adern?«
    Einen Augenblick war er versucht, ihn zu ohrfeigen. Um der Versuchung zu widerstehen, begann er mit großen Schritten im Saale auf und ab zu gehen; er kühlte seine Wut an den Bänken, durch die er sich gewaltsam einen Weg bahnte.
    »Schließt doch wenigstens die Türe«, bemerkte Suwarin. »Es ist nicht notwendig, daß man euch hört.«
    Nachdem er selbst die Türe geschlossen hatte, setzte er sich ruhig auf einen der vor dem Präsidententische stehenden Sessel. Er hatte sich eine Zigarette gedreht und betrachtete die beiden anderen mit seinem milden, schlauen Blick, die Lippen von einem feinen Lächeln gekräuselt.
    »Wenn du böse wirst, bringt es uns nicht weit«, bemerkte Rasseneur ruhig. »Ich habe zuerst geglaubt, du seiest besonnen und vernünftig. Es war sehr gut, den Kameraden zu empfehlen, daß sie sich ruhig verhalten, sie zu zwingen, daß sie sich nicht aus ihren Häusern rühren, endlich deine Macht zu gebrauchen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Jetzt willst du selbst sie ins Verderben stürzen.«
    Bei jedem Lauf zwischen den Bänken kam Etienne zu dem Schankwirt zurück, packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn und schrie ihm seine Antworten ins Gesicht.
    »Donner Gottes, ich will ja ruhig bleiben. Ja, ich habe ihnen eine Disziplin auferlegt; ja, ich rate ihnen noch immer, sich nicht zu rühren. Aber man soll uns nicht zum besten halten wollen. Du hast das Glück, kaltes Blut zu bewahren. Ich glaube manchmal, daß mir der Schädel platzen will.«
    Es war dies seinerseits eine Beichte. Er verhöhnte sich selbst wegen seiner Wahnvorstellungen eines Neulings, wegen seines frommen Traumes von einer Stadt, wo unter den Brüder gewordenen Menschen alsbald die Gerechtigkeit herrschen solle. Fürwahr, ein gutes Mittel, die Arme kreuzen und warten, um zuzusehen, wie die Menschen bis zum Ende aller Tage einander auffressen gleich den Wölfen. Nein, man müsse sich einmengen, sonst werde das Unrecht ewig dauern, und stets würden die Reichen das Blut der Armen trinken. Er könne sich denn auch die Dummheit nicht verzeihen, einst gesagt zu haben, daß man die Politik aus der sozialen Frage verbannen müsse. Damals habe er nichts verstanden, seither aber gelesen und studiert. Jetzt seien seine Gedanken gereift, und er rühme sich, ein System zu haben. Allein er erklärte es schlecht, in verworrenen Redensarten, die ein Gemisch aller Systeme darstellten. Obenauf blieb der Gedanke von Karl Marx: das Kapital ist das Resultat der Beraubung; die Arbeit hat die Pflicht und das Recht, diesen gestohlenen Reichtum zurückzuerobern. In der Praxis hatte er sich anfänglich gleich Proudhon durch den Traum vom wechselseitigen Kredit fangen lassen, von einer riesigen Austauschbank; dann wieder begeisterte er sich für die staatlich unterstützten Arbeitsgenossenschaften, die allmählich die ganze Erde in eine einzige Industriestadt umwandeln sollten. Dies währte bis zu dem Tage, an dem die Schwierigkeit der Kontrolle ihn diesen Plan fallen ließ. Seit kurzer Zeit war er bei dem Kollektivismus angelangt; er forderte, daß alle Arbeitswerkzeuge der Kollektivität abgeliefert würden. Allein dieser Plan war noch ganz verschwommen, und er wußte nicht, wie man ihn verwirklichen solle; ihn behinderten die Bedenken seiner Empfindlichkeit und seiner Vernunft; er wagte nicht, sich bis zu den bestimmten Behauptungen der Sektierer zu versteigen. Er sagte bloß, es handle sich vor allem darum, sich der Regierung zu bemächtigen; das weitere werde sich finden.
    »Aber was ficht dich an? Warum willst du dich mit den Spießbürgern einlassen?« fuhr er heftig fort, indem er sich vor den Schankwirt hinstellte. »Sagtest du nicht selber, es müsse alles in die Luft fliegen?«
    Rasseneur errötete leicht.
    »Ja, das habe ich gesagt; und wenn alles in die Luft fliegt, sollst du sehen, daß ich nicht feiger bin als ein anderer. Allein ich bin nicht gesonnen, mit denen zu gehen, die den Trubel vermehren, um für sich eine Stellung

Weitere Kostenlose Bücher