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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Etienne mit zusammengekniffenen Lippen. »Ich werde dir die Haut vom Leibe ziehen.«
    »Versuch's einmal!« erwiderte Chaval.
    Sie schauten einige Sekunden einander so nahe ins Gesicht, daß ihr heißer Atem ihr Gesicht streifte. Katharina trat bittend dazwischen, faßte ihren Liebhaber bei der Hand und führte ihn hinweg. Sie zog ihn fort und floh mit ihm aus dem Dorfe, ohne auch nur den Kopf zu wenden.
    »Welch ein Vieh!« brummte Etienne und warf heftig die Tür zu, von einer solchen Wut geschüttelt, daß er sich setzen mußte.
    Die Maheu hatte sich nicht vom Platze gerührt. Sie machte bloß eine Handbewegnng, dann trat Stille ein, peinlich und drückend infolge all der Dinge, die sie sich nicht sagten. Trotz der Anstrengungen, die er machte, kehrten seine Augen immer wieder zu ihrer Brust zurück, zu diesem weißen Fleisch, dessen Schimmer ihm jetzt lästig war. Wohl war sie vierzig Jahre alt und unförmig wie ein braves Weibchen, das zuviel Junge hervorgebracht hat; aber noch viele trugen Verlangen nach ihr; sie war breit und kräftig mit dem lang gezogenen Gesichte eines früher hübschen Mädchens. Langsam und ruhig faßte sie mit beiden Händen ihre Brust und schob sie in das Hemd zurück; ein rosiger Zipfel wollte nicht hinein, sie half mit einem Finger nach; dann knöpfte sie ihr Leibchen zu. Ihr aus der Form geratener Körper war jetzt ganz schwarz in dem alten, abgenutzten Kleide.
    »So ein Schwein!« sagte sie endlich. »Nur ein schmutziges Schwein kann solche ekelhafte Gedanken haben... Ich mache mir nichts daraus; er war keiner Antwort wert.«
    Dann fügte sie freimütig hinzu, ohne den jungen Mann aus den Augen zu lassen:
    »Ich habe gewiß meine Fehler, aber diesen nicht... Nur zwei Männer haben mich berührt, ein Schlepper einst, als ich erst fünfzehn Jahre zählte, und nachher Maheu. Hätte er mich verlassen wie der andere — ich weiß wahrlich nicht, was aus mir geworden wäre, und ich bin nicht stolz darauf, daß ich seit unserer Ehe mich gut betragen habe; denn man tut das Schlimme oft nur deshalb nicht, weil die Gelegenheit fehlt... Indes ich sage, wie es ist, und ich kenne Nachbarinnen, die nicht ein Gleiches sagen könnten. Nicht wahr?«
    »Ja, das ist wahr«, erwiderte Etienne und stand auf.
    Er ging hinaus, während sie sich entschloß, das Feuer wieder anzuzünden, nachdem sie die wieder eingeschlafene Estelle auf zwei Sesseln gebettet hatte. Wenn es dem Vater gelingt, einen Fisch zu fangen und zu verkaufen, wird man Suppe kochen.
    Draußen senkte sich schon die Nacht herab, eine eiskalte Nacht. Etienne schritt gesenkten Hauptes dahin, von einer dumpfen Traurigkeit erfaßt. Es war nicht mehr der Zorn gegen den Mann, das Mitleid für das arme mißhandelte Mädchen. Die rohe Szene verflüchtigte sich; er versank in das Leid aller, in die Schrecknisse des Elends. Er sah das Arbeiterdorf ohne Brot; er sah, wie die Weiber und Kinder des Abends nichts zu essen hatten; all das Volk, das mit leerem Magen kämpfte. Der Zweifel, der ihn zuweilen streifte, erwachte abermals in ihm inmitten der erschreckenden Schwermut der Abenddämmerung, und quälte ihn heftiger denn je. Welche furchtbare Verantwortlichkeit lud er da auf sich! Sollte er sie noch weiter treiben, zu einem hartnäckigen Widerstande anspornen, jetzt, da er weder Geld noch Kredit mehr hatte? Was wird das Ende sein, wenn keine Hilfe kommt, wenn der Hunger den Mut aller bricht? Plötzlich tauchte vor ihm das Bild des Unglücks auf: sterbende Kinder, schluchzende Mütter, während die Männer bleich und abgehärmt wieder zu den Gruben anfuhren. Er ging immer weiter; seine Füße strauchelten über die Steine; der Gedanke, daß die Gesellschaft siegen und er das Unglück seiner Kameraden verursacht habe, erfüllte ihn mit unerträglicher Angst.
    Als er das Haupt erhob, sah er, daß er sich vor dem Voreuxschachte befand. Die finstere Masse der Gebäude lag schwerfällig im wachsenden Dämmerdunkel da. Es war inmitten des verödeten, von großen, unbeweglichen Schatten erfüllten Werkhofes gleichsam das Stück einer aufgelassenen Festung. Wenn die Fördermaschine stillestand, schien die Seele aus diesen Mauern zu entweichen. Zu dieser nächtlichen Stunde war nichts Lebendes mehr da, keine Laterne und keine Stimme. Selbst die Dampfausströmung der Pumpe klang wie ein entferntes Röcheln, von dem man nicht wußte, woher es kam inmitten der Todesstille des ganzen Schachtes.
    Etienne blickte um sich, und alles Blut strömte ihm nach dem

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