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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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trotz seiner gewohnten Willenskraft.
    Bis elf Uhr arbeitete der Direktor ruhig in dem stillen Hause, wo kein anderes Geräusch zu vernehmen war als das, welches Hippolyte in den Gemächern des ersten Stockwerkes mit der Zimmerbürste verursachte. Dann kamen -- knapp nacheinander -- zwei Depeschen; die erste kündete ihm den Überfall der Bande von Montsou auf die Jean-Bart-Grube; die zweite meldete ihm das Durchschneiden der Kabel, das Auslöschen der Feuer, die ganze Verwüstung. Er begriff die Sache nicht. Was hatten die Streikenden bei Deneulin zu suchen, anstatt sich an eine gesellschaftliche Grube zu halten? Übrigens konnten sie seinethalben Vandame verwüsten; das förderte nur seine Erweiterungspläne. Mittags frühstückte er allein in dem großen Speisezimmer, lautlos bedient von Hippolyte. der in seinen Pantoffeln ab und zu ging. Diese Einsamkeit vergrößerte nur noch seine bange Sorge; er fühlte eine Kälte im Herzen, als ein laufend angekommener Aufseher hereingeführt wurde, der ihm den Marsch der Bande nach Mirou erzählte. Unmittelbar darauf -- er trank eben seinen Kaffee aus, erfuhr er aus einer Depesche, daß auch die Gruben Magdalene und Crèvecoeur bedroht seien. Da ward seine Ratlosigkeit vollständig. Er erwartete die Post für zwei Uhr; sollte er sogleich Truppen verlangen? Oder war es besser, sich in Geduld zu fassen, nichts zu tun, bevor er die Absichten der Verwaltung kannte? Er kehrte in sein Arbeitszimmer zurück, denn er wollte ein Schriftstück lesen, das für den Präfekten bestimmt war und das Negrel gestern Abend auf sein Ersuchen aufgesetzt hatte. Allein er konnte es nicht finden und dachte, der junge Mann habe es vielleicht in seinem Zimmer gelassen, wo er des Nachts oft zu schreiben pflegte. Ohne einen Entschluß zu fassen, von dem Gedanken an dieses Schreiben verfolgt, eilte er in das Zimmer hinauf, um es dort zu suchen.
    Als Herr Hennebeau eintrat, war er überrascht, daß das Zimmer nicht in Ordnung gebracht war; die Schuld lag sicher in einem Vergessen oder in einer Lässigkeit Hippolytes. In dem Gemach herrschte eine feuchte Wärme, die eingeschlossene Wärme einer ganzen Nacht, noch vermehrt durch die offen gebliebene Öffnung der Dampfheizung; ein durchdringender Wohlgeruch kam ihm entgegen, ohne Zweifel von den riechenden Wässern kommend, mit denen das Waschbecken gefüllt war. Große Unordnung herrschte in dem Gemache; Kleider lagen umhergestreut, feuchte Handtücher waren über die Sessellehnen geworfen; das Bett stand weit offen, ein Laken war herausgerissen und hing bis zum Teppich herunter. Übrigens hatte er anfänglich für alldas nur ein zerstreutes Auge; er wandte sich zu dem mit Papieren bedeckten Tische und suchte daselbst das unauffindbare Schreiben. Zweimal prüfte er die Papiere einzeln: es war nicht dabei. Wohin zum Teufel hatte der Tollkopf Negrel es gesteckt?
    Als Herr Hennebeau in die Mitte des Zimmers zurückkehrte und auf jedes Möbelstück einen Blick warf, bemerkte er in dem offenen Bette einen hellen Punkt, der schimmerte wie ein Funke. Er trat mechanisch näher und streckte die Hand aus. Zwischen zwei Falten des Bettlakens lag ein kleines Goldfläschchen. Er erkannte sogleich das kleine Ätherfläschchen, das seine Frau stets bei sich trug. Er konnte sich die Gegenwart dieses Fläschchens nicht erklären; wie konnte es in Pauls Bette geraten sein? Plötzlich erbleichte er furchtbar. Seine Frau hatte da geschlafen.
    »Um Vergebung,« murmelte Hippolyte, die Türe öffnend, »ich habe den gnädigen Herrn heraufkommen sehen ...«
    Der Diener war eingetreten und stand angesichts der in dem Gemache herrschenden Unordnung betroffen da.
    »Mein Gott! Es ist wahr, das Zimmer ist nicht aufgeräumt. Rose ist fort und hat mir das ganze Hauswesen auf dem Halse gelassen.«
    Herr Hennebeau hatte das Fläschchen in seiner Hand verborgen und preßte es mit solcher Gewalt, daß er es beinahe zerbrach.
    »Was wollen Sie?« fragte er den Diener.
    »Gnädiger Herr, es ist wieder ein Mann da... Er kommt aus Crèvecoeur und bringt einen Brief.«
    »Gut; lassen Sie mich allein. Er soll warten.«
    Seine Frau hatte da geschlafen! Als er den Riegel vorgeschoben hatte, öffnete er die Hand wieder und betrachtete das Fläschchen, das sich in seiner Handfläche rot abgezeichnet hatte. Plötzlich sah und begriff er: diese Schweinerei geschah in seinem Hause seit Monaten. Er erinnerte sich seines ehemaligen Verdachtes, des schlürfenden Geräusches nackter Füße vor den Türen

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