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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Fingern ins Gesicht, obgleich ich nur ein Weib bin ... Wir sollen zwei Monate gedarbt, ich soll meinen Hausrat verkauft haben, wir sollen krank geworden sein: und all das für nichts? Und die Ungerechtigkeit soll von vorn beginnen? ... Wenn ich daran denke, erstickt mich schier das Blut. Nein, nein, eher würde ich alles verbrennen, alles niedermetzeln als mich ergeben.«
    Sie zeigte mit einer drohenden Handbewegung auf den im Dunkel stehenden Maheu und sagte:
    »Wenn mein Mann zur Grube zurückkehrt, erwarte ich ihn am Wege, um ihm ins Gesicht zu speien und ihn einen Feigling zu nennen!«
    Etienne sah sie nicht, aber er verspürte eine Hitze, etwas wie den heißen Atem eines heulenden Tieres und wich betroffen zurück vor dieser Tollwut, die sein Werk war. Er fand sie dermaßen verändert, daß er sie nicht wiedererkannte; sie war ehemals so bedächtig, warf ihm seine Heftigkeit vor, sagte, daß man niemandem den Tod wünschen solle. Jetzt aber wollte sie der Vernunft kein Gehör schenken und sprach davon, alles niederzumetzeln. Nicht er sprach jetzt von Politik, sondern sie; sie wollte mit einem Schlage die Bürger hinwegfegen, forderte die Republik und die Guillotine, um die Erde von diesen diebischen Reichen zu befreien, die von der Arbeit der Hungerleider fett geworden.
    »Ja, mit meinen zehn Fingern würde ich sie schinden ... Es ist genug, denke ich. Unsere Zeit ist gekommen, du selbst hast es gesagt ... Wenn ich bedenke, daß der Vater, der Großvater, der Urgroßvater, alle Vorfahren gelitten haben, was wir leiden, und daß unsere Söhne, die Söhne unserer Söhne gleichfalls leiden werden, so werde ich toll und könnte ein Messer ergreifen ... Wir haben neulich noch nicht genug getan; wir hätten Montsou der Erde gleichmachen sollen bis auf den letzten Ziegel, und ich bedaure nur verhindert zu haben, daß der Alte die Tochter der Leute von der Piolaine erdrossele ... Läßt man nicht den Hunger meine Kleinen erwürgen?«
    Ihre Worte klangen wie Axthiebe im Dunkel der Nacht. Der geschlossene Horizont hatte sich nicht öffnen wollen. In diesem vom Schmerz verdrehten Schädel verwandelte sich das unmöglich gewordene Ideal in Gift und Galle.
    »Sie haben mich schlecht verstanden«, konnte Etienne endlich sagen, indem er den Rückzug antrat. »Man müßte zu einer Vereinbarung mit der Gesellschaft kommen; ich weiß, daß die Gruben infolge des Streiks großen Schaden leiden; die Gesellschaft würde einem Ausgleich sicherlich zustimmen.«
    »Nein, nichts!« brüllte sie.
    Eben kamen Leonore und Heinrich mit leeren Händen heim. Ein Herr hatte ihnen zwei Sous geschenkt; aber weil die Schwester dem Brüderchen immer Fußtritte versetzte, waren die zwei Sous in den Schnee gefallen. Johannes hatte ihnen suchen helfen, und sie konnten nicht mehr gefunden werden.
    »Wo ist Johannes?«
    »Mutter, er ist fortgelaufen; er sagte, er habe zu tun.«
    Tiefbekümmerten Herzens hörte Etienne diese Erzählung. Ehemals hatte die Maheu ihren Kindern gedroht, ihnen die Hälse umzudrehen, wenn sie wagen sollten, die Hand auszustrecken. Heute schickte sie selbst die Kleinen auf die Straßen hinaus und sprach davon, daß sie alle, die zehntausend Bergleute von Montsou, mit Quersack und Bettelstab das entsetzte Land durchziehen wollten.
    Da ward der Jammer noch größer in dieser finsteren Stube. Die Kleinen waren hungrig heimgekehrt und wollten essen. Warum aß man nicht? fragten sie. Sie murrten, schleppten sich am Boden herum und traten ihrer sterbenden Schwester auf die Füße, daß sie schmerzlich stöhnte. Außer sich schlug die Mutter im Finstern auf sie los. Als sie lauter schrien und Brot verlangten, brach sie in Tränen aus, sank auf die Fliesen hin, umschloß sie alle, auch die Kranke, in einer Umarmung und weinte lange, lange, hundertmal dieselben Worte stammelnd: »Gott, warum nimmst du uns nicht zu dir? Gott, aus Erbarmen, nimm uns zu dir, um ein Ende zu machen!« Der Großvater verharrte in der Unbeweglichkeit eines alten Baumes, den Sturm und Regen gebeugt und gekrümmt haben, während der Vater unablässig zwischen Kamin und Eßschrank hin und her ging, ohne den Kopf zu wenden.
    Doch jetzt ward die Tür geöffnet; diesmal war es der Doktor Vanderhaghen.
    »Teufel!« schalt er; »euch wird das Kerzenlicht auch nicht die Augen verderben! ... Rasch, rasch, ich habe Eile.«
    Erschöpft von seiner Berufsarbeit brummte er wie immer. Er hatte glücklicherweise Zündhölzchen bei sich; der Vater mußte sechs nach einander

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