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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Verwirrung. Nein, niemand. Er hoffe es wenigstens. Es sei immerhin möglich, daß einzelne Arbeiter sich verspätet hätten.
    »Herrgott! Warum sind Sie dann heraufgekommen? Verläßt man so die Leute?«
    Sogleich erteilte er den Befehl, daß man die Lampen zähle. Man hatte am Morgen dreihundertzweiundzwanzig verteilt und fand nur zweihundertfünfundfünfzig wieder; allein mehrere Arbeiter gestanden, daß die ihre unten geblieben und in dem Schrecken, in dem Gedränge ihnen aus der Hand gefallen sei. Man versuchte mit einem Namensaufruf vorzugehen, aber es war unmöglich, eine genaue Ziffer festzustellen; einzelne Bergleute waren davongelaufen, andere hörten ihre Namen nicht mehr. Man konnte sich über die Zahl der abgängigen Kameraden nicht einigen; es waren ihrer vielleicht zwanzig, vielleicht vierzig. Eines war für den Ingenieur gewiß: es waren noch Leute in der Grube; man hörte ihr Geheul durch das Geräusch des Wassersturzes, und das eingestürzte Gebälk hindurch, wenn man am Eingange des Schachtes hinabhorchte.
    Die erste Sorge Negrels war, Herrn Hennebeau holen zu lassen und die Grube schließen zu wollen. Aber es war schon zu spät; die Bergleute, die --- wie von dem Krachen der Verzimmerung verfolgt- -- nach dem Dorfe der Zweihundertvierzig gerannt waren, hatten schon die Familien in Schrecken gejagt; ganze Scharen von Weibern, Greisen und Kindern liefen schreiend und jammernd herbei. Man mußte sie zurückdrängen; eine Reihe von Aufsehern wurde beauftragt, sie zurückzuhalten, damit sie die Rettungsarbeiten nicht stören. Viele der Arbeiter, die heraufgeholt worden, blieben da, ganz blöde, ohne daran zu denken, ihre Kleider zu wechseln, durch einen Bann des Entsetzens festgehalten vor diesem furchtbaren Loche, in dem sie fast geblieben wären. Die Weiber umstanden sie flehend und fragten nach den Namen. War der unten? Und der? Und jener? Aber sie wußten nicht; sie stammelten nur und machten sinnlose Gebärden, als wollten sie damit ein immer wiederkehrendes, furchtbares Bild verscheuchen. Die Menge wuchs schnell an; auf den Straßen stieg ein furchtbares Gejammer auf. Oben, auf dem Abbauhügel, in der Hütte des alten Bonnemort, saß Suwarin auf der Erde. Er hatte sich nicht entfernt; er wartete und schaute.
    »Die Namen! Die Namen!« riefen die Weiber mit tränenerstickter Stimme.
    Negrel erschien einen Augenblick und rief:
    »Sobald wir die Namen wissen, werden wir sie bekanntgeben! Noch ist nichts verloren; alle werden gerettet ... Ich fahre ein.«
    Die Menge wartete nun in stummer Angst. In der Tat schickte sich der Ingenieur mit ruhigem Mute zur Einfahrt an. Er hatte die Schale loshaken lassen und den Befehl gegeben, statt derselben eine Tonne an das Seil zu hängen; und da er vermutete, daß das Wasser seine Lampe auslöschen werde, befahl er, daß unterhalb der Tonne eine zweite angebracht werde, welche durch die Tonne geschützt sei. Bleich und zitternd halfen mehrere Aufseher bei diesen Vorbereitungen.
    »Dansaert, Sie werden mit mir einfahren«, gebot Negrel kurz.
    Als er alle so mutlos sah, als er sah, wie der Oberaufseher entsetzt wankte, schob er ihn mit einer verächtlichen Gebärde zur Seite.
    »Nein, Sie wären mir nur im Wege... ich will lieber allein sein.«
    Schon stand er in dem engen Kübel, der am Ende des Seiles schwankte. Mit der einen Hand die Lampe haltend, mit der ändern die Signalleine ergreifend, rief er dem Maschinisten zu:
    »Langsam!«
    Die Fördermaschine setzte sich in Bewegung; Negrel verschwand in dem Abgrunde, aus dem noch immer das Geheul der Unglücklichen herauftönte.
    In der Höhe war alles in Ordnung; er stellte fest, daß die obere Verzimmerung sich in gutem Zustande befinde. Im Schachte hin- und hergeschaukelt drehte er sich nach allen Seiten und beleuchtete die Wände; das Sickerwasser zwischen den Rissen war so spärlich, daß seine Lampe nicht darunter litt. Aber, als er in einer Tiefe von dreihundert Metern bei der unteren Verholzung ankam, erlosch sie, wie er es vorhergesehen; ein Wasserstrahl hatte den Kübel gefüllt. Und jetzt sah er nur mehr bei dem Scheine der an dem Kübel hängenden Lampe, die ihm in der Finsternis vorausging. Angesichts des furchtbaren Unglücks erbleichte und erschauerte der sonst so kühne Mann. Nur einige Stücke Holz waren geblieben, die übrigen waren mit ihren Rahmen hinabgestürzt; dahinter gab es riesige Höhlen, der feine, gelbe Flugsand ergoß sich in bedeutenden Massen, während die Wasser des unterirdischen

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