Germinal
daß sofort die Grube geräumt werde. Es war ein trauriger Leichenzug, ein stummes Verlassen mit rückwärts gerichteten Blicken nach diesen großen, leeren Ziegelbauten, die noch aufrecht standen, aber unrettbar verloren waren.
Als der Direktor und der Ingenieur als die Letzten vom Aufnahmesaale herunterkamen, empfing sie die Menge mit ihrem hartnäckig wiederholten Rufe:
»Die Namen! Die Namen! Sagt die Namen!«
Jetzt war auch Frau Maheu unter den Weibern. Sie erinnerte sich des Geräusches, das sie in der Nacht gehört; ihre Tochter und ihr Mieter mußten zusammen weggegangen sein; sie befinden sich gewiß in der Grube. Nachdem sie ausgerufen hatte, es geschehe ihnen recht, wenn sie unten blieben, die Herzlosen, die Feiglinge, war sie herbeigeeilt; zitternd vor Angst stand sie in der ersten Reihe. Sie wagte übrigens nicht mehr zu zweifeln; der Streit um die Namen, den es ringsumher gab, belehrte sie, daß Katharina unten war und Etienne gleichfalls. Ein Kamerad hatte sie gesehen. Aber hinsichtlich der übrigen war man nicht einig. Dieser nicht, jener ja; Chaval sei unten, meinte der eine, während ein Schlepperjunge schwor, mit ihm ausgefahren zu sein. Die Levaque und die Pierron hatten sich, obgleich keiner der übrigen in Gefahr war, unter die übrigen gemengt und schrien am lautesten. Zacharias, der als einer der ersten ausgefahren war, küßte weinend sein Weib und seine Mutter, wenngleich er sonst gern den gegen alles gleichmütigen Menschen spielte. Neben seiner Mutter bleibend, teilte er ihre Angst, bekundete eine ganz ungewohnte Liebe für die Schwester und wollte nicht glauben, daß diese noch unten sei, solange die Vorgesetzten dies nicht in amtlicher Form bestätigt hätten.
»Die Namen! Die Namen! Um Gottes willen, sagt uns die Namen!«
So waren zwei Stunden verflossen. Im ersten Schrecken hatte niemand an den andern Schacht gedacht, an den alten Schacht von Réquillart. Herr Hennebeau verkündete eben, daß man das Rettungswerk von jener Seite versuchen werde, daß fünf Arbeiter sich aus der ersäuften Grube gerettet hatten, indem sie die morschen Leitern des alten Schachtes erstiegen. Man nannte den Vater Mouque; dies überraschte jedermann; man hatte nicht geglaubt, daß er unten sei. Doch die Mitteilungen der Geretteten vermehrten noch den Jammer: fünfzehn Kameraden hätten ihnen nicht folgen können; sie hätten sich verirrt, seien durch Verschüttungen abgeschnitten; es sei nicht möglich, ihnen zu Hilfe zu kommen, denn es ständen zehn Meter Wasser im Réquillartschachte. Man kannte jetzt alle Namen, und die Luft widerhallte von dem Jammergeheul.
»Heißt sie doch schweigen!« wiederholte Negrel wütend. »Sie sollen auf eine Entfernung von hundert Metern zurückweichen. Denn es ist hier Gefahr. Drängt sie zurück!«
Man mußte sich dieser armen Leute erwehren; sie bildeten sich noch andere Unglücksfälle ein; man jagte sie davon, um Tote vor ihnen zu verbergen. Die Aufseher mußten ihnen erklären, daß der Schacht die Grube verschlingen werde. Dieser Gedanke ergriff sie in dem Maße, daß sie stumm blieben; sie ließen sich schließlich Schritt für Schritt zurückdrängen, aber man mußte die Wachen verdoppeln, die sie zurückhielten; denn sie kamen unwillkürlich immer wieder, gleichsam angezogen durch die Grube. Etwa tausend Personen drängten sich auf der Straße; man lief aus allen Arbeiterdörfern herbei, selbst aus Montsou. Der Mann auf dem Hügel aber -- der blonde Mann mit dein Mädchengesichte -- rauchte Zigaretten, um sich die Zeit zu vertreiben und wandte die hellen Augen nicht von der Grube.
Jetzt begann das Harren. Es war Mittag; niemand hatte gegessen, und dennoch entfernte sich niemand. Am nebeligen, schmutzig-grauen Himmel zogen langsam rostfarbene Wolken dahin. Hinter der Hecke der Rasseneurschen Schenke ließ ein großer Hund, den der lebendige Hauch der Menge reizte, ein unaufhörliches, wütendes Gebell vernehmen. Und diese Menge hatte sich allmählich über die anstoßenden Felder verbreitet und -- in einer Entfernung von etwa hundert Metern -- einen Kreis um die Grube geschlossen. Mitten in dem eingeschlossenen, großen Raume erhoben sich die Gebäude der Voreuxgrube. Keine Seele und kein Geräusch, wie in der Wüste; Fenster und Türen blieben offen und gestatteten eine Einsicht in die verlassenen inneren Räume. Eine rote Katze, die man dort vergessen hatte, witterte ohne Zweifel die Gefahr dieser Einsamkeit, sprang von einer Treppe herab und verschwand.
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