Germinal
Von diesem Handwerk lebte er jetzt, nachdem er infolge eines vereitelten Anschlages auf das Leben des Kaisers geflohen war. Um diesen Anschlag auszuführen, hatte er einen Monat hindurch in dem Keller eines Obsthändlers gelebt, eine Mine quer unter der Straße angelegt, Bomben geladen in der fortwährenden Gefahr, samt dem Hause in die Luft zu fliegen. Von seiner Familie verleugnet, aller Geldmittel entblößt, als Fremder abgewiesen von den französischen Werkstätten, die in ihm einen Spion witterten, starb er beinahe Hungers, als die Bergwerksgesellschaft von Montsou in einem Zeitpunkte, da Not an Mann war, ihn endlich aufnahm. Seit einem Jahre arbeitete er als tüchtiger, nüchterner, ruhiger Arbeiter, die eine Woche Tagdienst, die andere Woche Nachtdienst machend, so pünktlich und verläßlich, daß die Vorgesetzten ihn als ein Muster anführten.
»Hast du denn niemals Durst?« fragte ihn Etienne lachend.
Er antwortete mit seiner sanften, fast ausdruckslosen Stimme:
»Ich habe Durst, wenn ich esse.«
Sein Gefährte neckte ihn auch wegen der Mädchen und schwor, ihn mit einer Schlepperin in den Getreidefeldern bei dem »Dorfe der Seidenstrümpfe« gesehen zu haben. Doch Souvarine zuckte mit ruhiger Gleichgültigkeit die Achseln. Eine Schlepperin, wozu? Das Weib war für ihn ein Junge, ein Kamerad, wenn sie die brüderliche Anhänglichkeit und den Mut eines Mannes besaß. Wenn nicht: wozu sich etwas ins Herz pflanzen, was möglicherweise zu einer Feigheit führte? Weder Weib noch Freund; er wollte keine Bande; er war frei von seinem Blute und frei von dem Blute anderer.
Jeden Abend, wenn die Schenke sich leerte, blieb Etienne im Gespräch mit Suwarin zurück. Er trank in kleinen Schlucken sein Bier; der Maschinist rauchte unaufhörlich Zigaretten, deren Tabak mit der Zeit seine dürren Finger gerötet hatte. Seine verschleierten Träumeraugen folgten dem Rauche wie einem zerflatterten Traume; seine Linke tastete nervös in der Luft herum, gleichsam um sich zu beschäftigen; gewöhnlich nahm er ein altes Hauskaninchen auf seinen Schoß, ein dickes, stets trächtiges Weibchen, das im Hause frei herumlief. Dieses Kaninchen, das er »Polen« zubenannt hatte, war ihm mit großer Treue zugetan, schnüffelte an seinem Beinkleid herum, richtete sich auf, kratzte ihn mit seinen Pfoten, bis er es auf seinen Schoß genommen hatte wie ein Kind. Dann rollte es sich zusammen und saß da mit hängenden Ohren und geschlossenen Augen, während er mit einer unermüdlichen, fast unbewußten Bewegung der Hand das graue, seidenweiche Haar des Tieres streichelte, gleichsam beruhigt durch die Berührung mit diesem samtweichen, lebendigen Wesen.
»Ich muß Euch mitteilen, daß ich von Pluchart einen Brief erhalten habe«, berichtete ihm Etienne eines Abends.
Es war nur mehr Rasseneur in der Wirtsstube; der letzte Gast hatte seine Schritte nach dem Dorfe gewendet, das zur Nachtruhe rüstete.
»Ah!« rief der Wirt, vor seinen beiden Mietern stehend. »Wie weit ist Pluchart mit seiner Tätigkeit?«
Etienne unterhielt seit zwei Monaten einen lebhaften Briefwechsel mit dem Mechaniker von Lille, dem er seinen Arbeitseinstand in Montsou angezeigt hatte und der ihm jetzt seine Lehren mitteilte in der Hoffnung, daß Etienne unter den Bergleuten Propaganda machen könne.
»Er ist so weit, daß die in Rede stehende Vereinigung erfreuliche Fortschritte macht; wie es scheint, kommen von allen Seiten Beitrittsanmeldungen.«
»Was hältst du von ihrer Vereinigung?« wandte sich Rasseneur an Suwarin.
Dieser fuhr fort, »Polens« Kopf zärtlich zu streicheln, stieß eine Rauchwolke aus und murmelte endlich mit seiner ruhigen Miene:
»Neue Dummheiten!«
Allein Etienne begeisterte sich. In den ersten Träumen seiner Unwissenheit ward er durch sein zum Aufruhr veranlagtes Wesen in den Kampf der Arbeit mit dem Kapital gerissen. Es handelte sich um die internationale Arbeiterverbindung, um die berühmte »Internationale«, die eben damals gegründet worden. War das nicht eine herrliche Anstrengung, ein Feldzug, in dem die Gerechtigkeit schließlich siegen mußte? Die Grenzen hörten auf; die Arbeiter der ganzen Welt erhoben und vereinigten sich, um dem einzelnen Arbeiter das Brot zu sichern, das er erwarb. Welche einfache und doch große Organisation! Unten die Sektion, welche die Gemeinde darstellt; dann die Föderation, welche die Sektionen einer und derselben Provinz umfaßt; dann die Nation, und darüber endlich die Menschheit, verkörpert
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