Germinal
fröstelte nicht mehr; ein warmer Hauch wehte von den Fernen der Ebene her, während die Lerchen hoch in den Lüften ihren Sang ertönen ließen. Um drei Uhr genoß er das blendende Schauspiel der voll aufgegangenen Sonne, deren Lichtflut das ganze Firmament übergoß und die Ziegel der Häuser unter dem schmutzigen Kohlenstaube rot färbte. Im Juni stand das Getreide schon hoch, war bläulich-grün und hob sich von dem schwärzlichen Grün der Rüben ab. Es war ein endloses, bei dem leisesten Winde wogendes Meer, das er sich ausbreiten und von Tag zu Tag wachsen sah, zuweilen überrascht, als ob er es abends grüner finde als am Morgen. Die Pappeln am Kanal setzten Laubkronen an; der Hügel bekleidete sich mit Gras, die Wiesen schmückten sich mit Blumen, neues Leben sproß überall, schoß aus der Erde hervor, während unter ihr Menschen in Mühsal und Elend seufzten.
Wenn Etienne jetzt des Abends spazierenging, scheuchte er nicht mehr hinter dem Hügel die Liebespärchen auf. Er folgte ihren Furchen in den Getreidefeldern, er erriet ihre Vogelnester an der Bewegung der gelb schimmernden Ähren und der roten Klatschrosen. Zacharias und Philomene kehrten mit der Gewohnheit eines alten Paares dahin zurück; die Mutter Brulé, immer auf der Suche nach Lydia, entdeckte diese jeden Augenblick mit Johannes, die miteinander so tief vergraben waren, daß man auf sie treten mußte, um sie aufzuscheuchen. Die Mouquette lag überall umher; man konnte nicht durch ein Feld gehen, ohne ihren Kopf niedertauchen zu sehen, während ihre Füße allein sichtbar blieben, wie sie rücklings hingestreckt lag. Doch alle diese waren frei; der junge Mann fand die Sache nur an jenen Abenden strafbar, an denen er Katharina und Chaval begegnete. Zweimal sah er sie bei seiner Annäherung mitten in einem Felde niederducken, dessen Halme nachher unbeweglich blieben. Ein andermal, als er einem schmalen Pfade folgte, sah er am Boden eines Getreidefeldes die klaren Augen Katharinas auftauchen und dann in Tränen sich verschleiern. Seither schien ihm die unendliche Ebene zu eng; er verbrachte seine Abende lieber in Rasseneurs Schenke.
»Madame Rasseneur, geben Sie mir einen Schoppen ... Nein, ich gehe heute abend nicht aus, ich bin zu müde.«
Er wandte sich einem Kameraden zu, der gewöhnlich an einem Tische im Hintergrunde saß, den Kopf an die Wand gelehnt.
»Suwarin, nimmst du nicht auch einen Schoppen?«
»Danke, ich nehme nichts.«
Etienne hatte die Bekanntschaft Suwarins gemacht, weil sie hier Seite an Seite lebten. Es war ein Maschinist im Voreuxschachte, der oben ein möbliertes Zimmer innehatte und so der Nachbar Etiennes war. Er war etwa dreißig Jahre alt, schmächtig, blond, mit einem feinen Antlitz, das von langen Haaren und einem dünnen Barte eingerahmt war. Seine weißen, spitzigen Zähne, sein feiner Mund und seine dünne Nase, seine rosige Gesichtsfarbe gaben ihm das Aussehen eines Mädchens mit einem Ausdruck eigensinniger Sanftmut, in den der graue Wiederschein seiner stahlblauen Augen zuweilen einen wilden Zug brachte. In seiner ärmlichen Arbeiterstube war nichts als eine mit Büchern und Papieren angefüllte Kiste. Er war Russe, sprach niemals von sich selbst und kümmerte sich nicht um die Märchen, die über ihn in Umlauf waren. Die Grubenarbeiter, die allen Fremden gegenüber sehr mißtrauisch waren und nach seinen kleinen Spießbürgerhänden vermuteten, daß er einer anderen gesellschaftlichen Klasse angehörte, hatten anfänglich ein Abenteuer ersonnen, irgendeinen Mord, vor dessen Ahndung er die Flucht ergriffen hatte. Dann hatte er sich aber so brüderlich, so ohne jeden Stolz ihnen gegenüber gezeigt, hatte mit so vieler Leutseligkeit seine kleine Münze unter die Kinder des Dorfes verteilt, daß sie ihn nunmehr unter sich aufnahmen, beruhigt durch das Gerücht, daß er ein politischer Flüchtling sei; dieses Wort war in ihren Augen eine Entschuldigung selbst für ein Verbrechen und bedeutete gleichsam eine Leidensgenossenschaft.
In der ersten Zeit stieß Etienne bei ihm auf eine scheue Zurückhaltung. Er erfuhr denn auch erst später seine Geschichte. Suwarin war der jüngste Sohn einer adeligen Familie in Tula. In Sankt-Petersburg, wo er Medizin studierte, hatte die sozialistische Strömung, welche damals die ganze russische Jugend fortgerissen, ihn dazu bewogen, ein Handwerk, und zwar das eines Mechanikers zu erlernen, um sich unter das Volk zu mengen, es kennen zu lernen und ihm brüderlich beizustehen.
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