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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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junge Mann. »Braucht ihr einen guten Gott und sein Paradies, um glücklich zu sein? Könnt ihr nicht selbst euch das Glück hienieden verschaffen?«
    Endlos floß die eifrige Rede von seinen Lippen. Der geschlossene Horizont öffnete sich plötzlich, und es ward mit einem Schlage hell in dem düsteren Dasein dieser armen Leute. Die ewige Wiederkehr des Elends, die tierische Arbeit, das Schicksal des Viehes, das seine Wolle hergibt, um schließlich getötet zu werden, all der Jammer verschwand, wie hinweggescheucht durch einen ungeheuren Sonnenstrahl; und in einem blendenden Feenglanze stieg die Gerechtigkeit vom Himmel hernieder. Da der gute Gott tot war, mußte die Gerechtigkeit das Glück der Menschen sichern, indem sie die Gleichheit und Brüderlichkeit herrschen ließ. Eine neue Gesellschaft wuchs an einem Tage heran -- wie in den Träumen -- eine neue, ungeheure Stadt von wunderbarem Glanze, in der jeder Bürger von seiner Beschäftigung lebte und seinen Anteil an den gemeinsamen Vergnügungen hatte. Die alte, vermoderte Welt war in Staub zerfallen; eine Menschheit, geläutert von ihren Sünden, bildete ein einziges Volk von Arbeitern, welches die Losung hatte: jedem nach seinem Verdienst und jedem Verdienst nach seinen Werken. Dieser Traum breitete sich immer mehr aus und ward immer schöner; und je höher er in die Unmöglichkeit hinanstieg, desto verführerischer ward er.
    Von einem dumpfen Entsetzen ergriffen, wollte Frau Maheu anfänglich nichts hören. Nein, nein, es sei zu schön, man dürfe sich solchen Gedanken nicht hingeben; sie würden das Leben nachher nur noch abscheulicher erscheinen lassen, und man würde dann alles niedermetzeln, um glücklich zu sein. Als sie Maheus Augen funkeln sah, der verwirrt und so gut wie gewonnen war, unterbrach sie beunruhigt Etienne:
    »Lieber Mann, höre ihn nicht an! Du siehst wohl, daß er uns Märchen erzählt ... Werden die Spießbürger jemals arbeiten wollen wie wir?«
    Doch allmählich wirkte der Zauber auch auf sie. Sie lächelte schließlich, als ihre Einbildungskraft erweckt war und sie in das Feenreich der Hoffnung einzog. Es war so lieblich, eine Stunde lang die traurige Wirklichkeit zu vergessen. Wenn man lebt wie die Tiere, bis zur Erde gebeugt, muß man doch wohl einen Lügenwinkel haben, wo man sich Dinge gönnt, die man nie besitzen wird. Was sie in leidenschaftliche Aufregung und in Übereinstimmung mit dem jungen Manne brachte, war der Gedanke der Gerechtigkeit.
    »Sie haben recht!« rief sie. »Für eine gerechte Sache könnte ich mich in Stücke hacken lassen ... Es wäre nur gerecht, wenn auch für uns endlich bessere Tage kämen.«
    Da wagte auch Maheu sich zu begeistern.
    »Donner Gottes!« rief er; »ich bin nicht reich, aber ich würde hundert Sous dafür geben, wenn ich es noch vor meinem Tode erleben könnte. Welch eine Umwälzung! Wird es bald sein? Und wie wird man die Sache anfassen?«
    Etienne begann wieder zu sprechen, Die alte Gesellschaft krache in allen Fugen und könne nur mehr einige Monate dauern, behauptete er kühn. Über die Mittel der Durchführung äußerte er sich weniger bestimmt, mengte alles durcheinander, was er in den Büchern gelesen, erging sich vor diesen unwissenden Leuten ohne Scheu in Erklärungen, in die er selber sich schließlich verlor. Dabei kamen alle Systeme an die Reihe, gemildert durch die Sicherheit eines leichten Sieges, durch den Friedenskuß, der schließlich die Mißverständnisse der Klassen lösen solle; das schließe allerdings nicht aus, daß man die störrischen Köpfe unter den Besitzern und Spießbürgern zur Vernunft bringen müsse. Die Maheu schienen zu begreifen, stimmten ihm zu, fanden die wunderbaren Lösungen möglich mit dem blinden Glauben von Neubekehrten, gleich den ersten Christen, die das Erstehen einer vollkommenen Gesellschaft auf den Ruinen der alten Welt erwarteten. Die kleine Alzire fing einzelne Worte auf, dachte sich das Glück in der Gestalt eines stets warmen Hauses, wo die Kinder spielen und essen könnten, soviel sie wollten. Katharina saß stumm da, den [*Anmerkung des Korrektors: Tippfehler von "denn" in "den" korrigiert] Kopf auf die Hand gestützt und schaute immer auf Etienne. Als dieser zu sprechen aufhörte, fuhr sie zusammen und ward ganz bleich, wie von einem Schauer ergriffen.
    Doch jetzt blickte Frau Maheu auf die Kuckucksuhr.
    »Schon neun Uhr vorüber!« rief sie. »Ist's möglich? Wir werden morgen nicht aufstehen können.«
    Sie erhob sich vom Tische in

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