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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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übrigens niemals Ursache, böse zu werden. Obgleich er fast unwillkürlich gewissermaßen in der Gewalt eines Bannes auf den Augenblick zu warten schien, wenn sie zu Bette ging, vermied er doch alle Scherze und gefährlichen Handgreiflichkeiten. Die Eltern waren da, und überdies bewahrte er für sie ein Gefühl aus Freundschaft und Groll gemengt, das ihn hinderte, sie wie eine Dirne zu behandeln, nach der man Verlangen trägt in der Ungezwungenheit ihres gemeinsamen Lebens, bei der Toilette, bei den Mahlzeiten, während der Arbeit, ohne daß selbst ihre intimsten Bedürfnisse ihnen geheimgeblieben wären. Die ganze Schamhaftigkeit der Familie beschränkte sich auf die tägliche Waschung, welche das Mädchen jetzt allein in der oberen Stube vornahm, während die Männer unten badeten, einer nach dem andern.
    Nach Verlauf eines Monates schienen Etienne und Katharina einander nicht zu sehen, wenn sie, bevor die Kerze ausgelöscht ward, entkleidet im Zimmer hin und her gingen. Sie beeilte sich jetzt nicht mehr, nahm vielmehr ihre frühere Gewohnheit wieder auf, am Bettrande sitzend ihre Haare aufzustecken, die nackten Arme in der Luft, das Hemd bis zu den Schenkeln zurückgestreift; während er, ohne Beinkleider, ihr zuweilen behilflich war und die Stecknadeln suchte, die sie verloren hatte. Die Gewohnheit tötete das Schamgefühl über ihre Nacktheit; sie fanden es natürlich, so zu sein, da sie doch nichts Übles taten und es nicht ihre Schuld war, wenn für so viele Leute nur eine Stube da war. Indes gerieten sie zuweilen plötzlich in Verlegenheit in Augenblicken, wo sie an nichts Sträfliches dachten. Wenn er viele Abende nicht mehr die Blässe ihres Körpers gesehen hatte, sah er sie plötzlich wieder so weiß, daß er erschauerte und genötigt war, sich abzuwenden, weil er fürchtete, daß er der Versuchung erliegen könne, die Hände auszustrecken und sie zu ergreifen. Sie wieder ward an manchen Abenden ohne sichtliche Ursache von einer Regung der Züchtigkeit ergriffen, flüchtete unter die Bettdecke, als fühle sie die Hände des Burschen sie erfassen. Wenn dann die Kerze ausgelöscht war, merkten sie, daß sie nicht einschliefen, daß sie trotz ihrer Ermüdung aneinander dachten. Darüber waren sie am folgenden Tage unruhig und schweigsam; sie zogen die Abende vor, an denen es keine Aufregung gab und sie sich es voreinander ganz ruhig bequem machten.
    Etienne hatte sich nur über Johannes zu beklagen, der einen unruhigen Schlaf hatte; Alzire atmete leicht und kaum hörbar; Leonore und Heinrich fand man des Morgens einander in den Armen liegend, wie man sie des Abends zu Bett gebracht hatte. In dem in Finsternis gehüllten Hause war kein anderes Geräusch hörbar als das Schnarchen der Eheleute Maheu, das in regelmäßigen Zwischenräumen erscholl wie ein Blasebalg. Alles in allem fühlte sich Etienne da wohler als bei Rasseneur; das Bett war nicht schlecht, und die Bettwäsche ward allmonatlich einmal gewechselt. Er aß da auch eine bessere Suppe und litt nur dadurch, daß selten Fleisch auf den Tisch kam. Allein die anderen lebten auch nicht besser, und für fünfundvierzig Franken Pension konnte er nicht verlangen, daß man ihm zu jeder Mahlzeit einen Kaninchenbraten vorsetzte. Diese fünfundvierzig Franken waren für die Familie eine Aushilfe; man konnte leben und machte nicht allzu viele Schulden. Die Maheu zeigten sich ihrem Mieter gegenüber dankbar; seine Leibwäsche wurde gewaschen und ausgebessert, seine Knöpfe festgenäht, seine Kleidung in Ordnung gehalten; kurz, er merkte, daß die Sauberkeit und Sorgfalt einer Frau ihn umgab.
    Das war der Zeitabschnitt, in dem Etienne jene Gedanken erfaßte, die in seinem Gehirn wogten. Bis dahin hatte er -- inmitten der dumpfen Gärung unter seinen Kameraden -- nur eine unwillkürliche Empörung gefühlt. Allerlei verworrene Fragen tauchten in ihm auf: warum war das Elend der einen und der Reichtum der anderen? Warum wurden die ersteren von den letzteren geknechtet ohne Hoffnung, jemals an ihre Stelle zu gelangen? Das erste war, daß er seine Unwissenheit begriff. Seither quälte ihn eine geheime Scham, ein verborgener Kummer: er wußte nichts; er wagte nicht, von den Dingen zu sprechen, die ihn so leidenschaftlich erregten, von der Gleichheit aller Menschen, von der Gerechtigkeit, die eine Aufteilung der irdischen Güter forderte. Er warf sich also auf das Studium mit der regellosen, maßlosen Wißbegierde der Unwissenden. Jetzt stand er in einem

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