Germinal
unbehaglicher, beinahe verzweifelter Stimmung. Es war ihnen, als seien sie reich geworden und sänken nun mit einemmal wieder ins Elend zurück. Der Vater Bonnemort, der zur Grube ging, brummte, daß solche Geschichten die Suppe nicht besser machten. Die anderen gingen -- einer hinter dem andern -- hinauf und bemerkten die feuchten Mauern und die drückende, schlechte Luft. Wenn Katharina als letzte zu Bett gegangen war und die Kerze ausgelöscht hatte, hörte Etienne in der tiefen Stille, die in dem schlafenden Dorfe herrschte, wie das Mädchen sich in fieberhafter Erregung lange Zeit auf seinem Lager wälzte, ehe es seine Ruhe finden konnte.
Bei diesen abendlichen Gesprächen waren oft auch Nachbarn anwesend; Levaque, den die Idee der Teilung begeisterte; Pierron, der die Vorsicht übte, schlafen zu gehen, sobald die Gesellschaft angegriffen wurde. Dann und wann kam auch Zacharias auf einen Augenblick; allein die Politik langweilte ihn; er zog es vor, bei Rasseneur einen Schoppen zu trinken. Chaval überbot alle und forderte Blut. Fast jeden Abend verbrachte er eine Stunde bei den Maheu, und in dieser Beharrlichkeit lag eine uneingestandene Eifersucht, die Furcht, daß man ihm Katharina nehmen könne. Dieses Mädchen, dessen er schon überdrüssig wurde, war ihm teuer geworden, seitdem ein Mann in ihrer Nähe schlief und sie bei Nacht ihm nehmen konnte.
Etiennes Einfluß gewann an Ausdehnung; er brachte allmählich das ganze Bergdorf in Aufruhr. Es war eine stille Propaganda, und um so sicherer, als Etienne in aller Achtung höher stieg. Wenngleich als kluge Hausfrau noch mißtrauisch, behandelte die Maheu ihn rücksichtsvoll als einen jungen Mann, der pünktlich zahlte, weder trank noch spielte, die Nase immer in die Bücher steckte; und sie verschaffte ihm bei den Nachbarinnen den Ruf eines wohlunterrichteten jungen Mannes, und die Nachbarinnen mißbrauchten, dies, indem sie sich ihre Briefe von ihm schreiben ließen. Er war eine Art Geschäftsagent geworden, den man bei den Korrespondenzen der Familien in allen schwierigen Fällen zu Rate zog. Im Monat September war es ihm endlich auch gelungen, seine Unterstützungskasse zu gründen. Wohl stand sie noch auf schwachen Füßen, weil sie nur die Bewohner des Dorfes zu ihren Mitgliedern zählte; allein er hoffte auf den Anschluß der Bergleute sämtlicher Gruben, besonders wenn die Gesellschaft, die bisher gleichgültig geblieben war, auch fernerhin keine Schwierigkeiten machte. Man hatte ihn zum Sekretär des Unterstützungsvereins gewählt, und er bezog sogar ein kleines Gehalt für die Besorgung der Schreibsachen. Dadurch ward er fast wohlhabend. Ein verheirateter Bergmann kann sich kaum sein Leben gestalten; ein lediger jedoch, der keine anderen Laster hat, kann einen Spargroschen zurücklegen.
Von da ab vollzog sich bei Etienne eine langsame Umwandlung. Es erwachten in ihm Anwandlungen von Nettigkeit und Wohlstand, die in seiner Armut geschlummert hatten; er kaufte Tuchkleider und ein Paar feine Stiefel. Mit einem Schlage wurde er Führer; das ganze Dorf scharte sich um ihn. Es war eine köstliche Befriedigung seiner Eigenliebe; er berauschte sich an den ersten Freuden der Volkstümlichkeit. Daß er, noch so jung, vor kurzem noch ein Handlanger, als Gebieter an der Spitze der anderen stand: das erfüllte ihn mit Stolz, nährte seinen Traum von einer nahen Revolution, in der er eine Rolle spielen sollte. Sein Gesicht veränderte sich; er ward ernst und hörte sich gern reden, während sein wachsender Ehrgeiz seine Anschauungen fieberhaft durchglühte und ihn zum Kampfe drängte.
Indessen kam der Spätherbst; die Oktoberkälte hatte die kleinen Gärten des Arbeiterdorfes mit Rost überzogen. Hinter den dürren Fliederbüschen suchten Schlepper und Schlepperinnen nicht mehr Zuflucht, um auf dem Dache des Schuppens sich gütlich zu tun; es waren nur mehr die Wintergemüse übrig, Kohlköpfe, mit den Perlen weißen Reifes überzogen, Lauch und Spätsalat. Wieder peitschte der Regen die roten Ziegeldächer und ergoß sich geräuschvoll in die Fässer unter den Dachtraufen. Die Öfen in den Häusern kühlten nicht mehr aus und schwängerten die Luft in den Stuben mit Kohlendünsten. Eine Jahreszeit des Elends hub wieder an.
In einer der ersten kalten Oktobernächte konnte Etienne nicht einschlafen, weil er noch in großer Erregung war nach dem Vortrage, den er unten in der Wohnstube gehalten hatte. Er hatte Katharina unter die Bettdecke schlüpfen und dann die
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