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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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regelmäßigen Briefwechsel mit Pluchart, der besser unterrichtet war und mitten in der sozialistischen Bewegung stand. Er ließ sich Bücher senden, deren unvollständig aufgefaßter Inhalt ihm vollends den Kopf erhitzte; besonders ein Buch: »
Die Gesundheitslehre des Bergarbeiters
«, in welchem ein belgischer Arzt alle jenen Krankheiten aufzählte, an denen die Bergleute zugrunde gehen; dann volkswirtschaftliche Abhandlungen von einer unfaßbaren technischen Trockenheit; anarchistische Flugschriften, die ihn in Aufruhr brachten; alte Zeitungen, deren Behauptungen er als unanfechtbare Beweise in seinen Gesprächen anführte. Auch Suwarin lieh ihm Bücher. Das Werk über die Kooperativgenossenschaften ließ ihn einen vollen Monat über einen allgemeinen Bund zum Austausch der Werte brüten, bei dem das Geld abgeschafft und die Arbeit zur Grundlage des ganzen gesellschaftlichen Lebens gemacht werden sollte. Es schwand die Scham über seine Unwissenheit, und er ward stolz, seitdem er sich als Denker fühlte.
    In den ersten Monaten kam Etienne über das Entzücken des Neulings nicht hinaus; sein Herz floß von edler Entrüstung gegen die Bedrücker über und schwelgte in der Hoffnung auf den nahen Triumph der Bedrückten. In dem Gedankenwirbel, den alle diese Bücher in seinem Schädel hervorbrachten, war er noch nicht so weit, sich ein System zu bilden. Die praktischen Rückforderungsvorschläge Rasseneurs mengten sich bei ihm mit den Umsturzplänen Suwarins; und wenn er die Schenke »zum wohlfeilen Trunk« verließ, wo er fast jeden Tag mit Rasseneur und Suwarin gegen die Bergwerksgesellschaft wetterte, wandelte er gleichsam in einem Traum und sah die gründliche Wiedergeburt der Völker, die sich vollzog, ohne daß eine Fensterscheibe zerbrochen oder ein Tropfen Blut vergossen wurde. Die Mittel zur Durchführung blieben übrigens in ein Dunkel gehüllt; er glaubte lieber, daß die Dinge sehr gut gehen würden; denn sobald er ein Programm aufstellen wollte, nach dem die Welt neu eingerichtet werden sollte, verloren sich seine Gedanken in eine unlösbare Wirrsal. Er zeigte sich sogar voll Mäßigung und Mangel an Folgerichtigkeit; er wiederholte zuweilen, daß man die Politik aus dem Kreise der sozialen Frage verbannen müsse, eine Redensart, die er oft gelesen hatte und die gut zu klingen schien in der Umgebung phlegmatischer Bergleute, in der er lebte.
    In der Familie Maheu war es jetzt Brauch geworden, nach dem Abendessen eine halbe Stunde in der Wohnstube zu verweilen, ehe man hinaufging schlafen. Etienne sprach immer über den nämlichen Gegenstand. Seitdem seine Natur sich verfeinerte, fühlte er sich noch mehr verletzt durch das in dem Arbeiterdorfe allgemein übliche Zusammenleben der Geschlechter. Waren diese Menschen denn Tiere, daß sie mitten in den Feldern zusammengepfercht lebten, dermaßen aneinander gedrängt, daß man nicht sein Hemd wechseln konnte, ohne dem Nachbarn seinen Hintern zu zeigen? Wie wenig das der Gesundheit zuträglich war, und wie Burschen und Mädchen dabei notgedrungen verkümmerten!
    »Mein Gott!« pflegte Maheu zu bemerken, »wenn man mehr Geld hätte, würde man es sich auch bequemer einrichten können ... Immerhin ist es schlimm genug für alle, daß man dermaßen dicht beieinander leben muß. Das Ende von all dem sind immer betrunkene Männer und schwangere Mädchen.«
    Dies war das Gespräch der Familie; jeder sagte sein Wörtchen, während die Petroleumlampe die von Zwiebelduft geschwängerte Luft noch mehr verdarb. Nein, wahrhaftig, das Leben war nicht mehr schön. Man habe -- gleich den Tieren -- eine Arbeit zu verrichten, mit der ehemals die Galeerensklaven gestraft wurden; man lasse oft vorzeitig die Knochen dabei und all das, um des Abends nicht einmal Fleisch auf dem Tische zu haben. Man habe zwar zu essen, aber so wenig, gerade genug, um nicht vor Hunger zu verrecken; man sei verschuldet bis über den Kopf und werde verfolgt, als stehle man sein Brot. Wenn der Sonntag komme, schlafe man vor Mattigkeit. Das einzige Vergnügen sei, sich zu betrinken oder seinem Weibe ein Kind zu machen. Was habe man davon? Das Bier mache einen Dickwanst, und von den Kindern habe man später nur Undank. Nein, nein, das Leben sei gar nicht schön.
    Da mengte Frau Maheu sich ein:
    »Das Traurigste ist, daß man sich sagen muß, es werde nicht besser ... Wenn man jung ist, bildet man sich ein, das Glück werde kommen, und hofft auf allerlei Dinge; dann sieht man, daß das Elend kein Ende

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