Gern hab ich Sie bedient: Aufzeichnungen des Oberkellners im Hotel Vier Jahreszeiten Hamburg (German Edition)
Großfamilie findet alljährlich am Heiligabend mittags im Hotel Vier Jahreszeiten statt. Und das alles ohne Mannequins und Laufsteg, es reicht schon, dass sich ein jeder selbst nach bestem Wissen und Gewissen in Schale wirft.
Vor dem Hotel stehen das ganze Jahr über schöne Autos. Doch heute sind dort die allerherrlichsten mobilen Schmuckstücke zur Schau gestellt. Limousinen und Oldtimer-Raritäten, die nur zu besonderen Gelegenheiten aus der Garage geholt werden – wie z. B. der Aston Martin DB 5 von B. H.
Hotelhalle und Restaurants sind prachtvoll geschmückt. Aus allen Ecken und Winkeln strömt eine feierliche Atmosphäre und verbreitet ein Gefühl wie »Weihnachten bei Buddenbrooks«. Die Tannenbäume in den beiden Hallen glitzern vor Gold- und Silberschmuck. Über den wohlig knisternden Kamin ist eine Tannengirlande mit Christbaumkugeln, Zapfen und golden leuchtenden Sternen drapiert. Links vom Kamin schaut Prinz Heinrich von Preußen und auf der rechten Seite seine Gattin Prinzessin Irene auf die Gäste hernieder. Auch schon zu Zeiten der beiden Hoheiten wurden in dieser Halle Feste gefeiert. Wie heißt es doch bei Nestroy: »Es ist alles uralt, nur in andrer Gestalt.« Wenn mich jemand fragt, wer denn die Bilder des Prinzenpaares gemalt hat, antworte ich hie und da, je nach Fragendem: Franz Lenbach. Stimmt aber nicht, sie sehen nur ähnlich aus wie die Porträts des Münchner Malerfürsten. Wären sie wirklich von Lenbach, würden die beiden mit großer Wahrscheinlichkeit in der Galerie im Münchner Lenbachhaus hängen.
Jeder versucht einen Stuhl zu ergattern. Die Tischrunden werden immer größer, immer ausufernder. Jeder kennt jeden. Ralph L. ist schlauer. Er hat für Ria, Mischka, Konstantin H. mit Mutter und sich selbst einen Tisch zum Champagner in der Bar bestellt. Ganz oben am Olymp. Da ist er ungestört, hat Platz, und der ganze Firlefanz war ihm ohnehin nie wichtig. Sohnemann Leonard darf leider nicht mitkommen. Er ist erst sechs, noch zu klein. Manchmal, wenn er seiner Mutter Kaffee bringt, sagt er ganz wichtig: »Jetzt bin ich Herr Nährig, jetzt bin ich Oberkellner.« Bern-Heinrich trinkt mit Monika und seinen Lieben drei, vier Gin Tonic, damit er den Mut bekommt, sich nach dem Essen bei mir über den zähen Gänsebraten zu beschweren. Max und seine Mutter Beatrice sitzen seit elf Uhr beim Cocktail. Max ist unglaublich aufmerksam und liebevoll zu seiner Mutter. Ein feiner Junge. Aus der Nähe hört man weihnachtliche Klaviermusik. Es ist wie im Märchen. Die Menschen, wie erwachsen sie auch sein mögen, sind aufgeregt wie kleine Kinder. Manche benehmen sich auch so. Der Geräuschpegel ist hoch und schnatterig. Gläser klirren wie Weihnachtsglocken. Alles, was in Hamburg etwas gilt, den sogenannten Rang nebst entsprechendem Namen hat, oder sich zumindest dafür hält, ist an diesem Mittag Gast im Grill, im Restaurant Haerlin oder im Festsaal. Jede Familie hat einen festen Platz. Vor vielen Jahren von den Ahnen »erworben«. Daran gibt’s kein Rütteln. Wer so einen Tisch hat, gibt ihn nicht mehr her. Bis dass der Tod uns scheidet. Und selbst dann ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass dieser Tisch nun von den Nachkommen übernommen wird. Wenn sie denn wollen.
Kurz nach zwölf kommt das Gros der Gäste in die Halle, um einen Cocktail zu trinken, die neusten modischen Kleider, Schuhe und Schmuckstücke vorzuführen, mit anderen Gästen und Freunden zu parlieren und, das vor allen Dingen, einen Sitzplatz zu ergattern. Reservierungen gibt es hier keine. Die wunderhübsche Gabriele ist schon viertel vor zwölf eingetroffen, um ihren Platz in der Halle sicher zu haben. Der frühe Vogel fängt den Wurm. Zusätzlich hat sie Andreas Winkels, den Oberkellner, schon lange im Voraus gebeten, für sie ein Auge darauf zu haben und ihr den Platz freizuhalten. Der »falsche Riemenschneider« – eine Reliefplastik aus Holz nach einem Motiv des berühmten Bildschnitzers – beobachtet sie unentwegt. Adalbert kommt auch mit seiner Sippe. Zehn Mann, mindestens. Für ihn ist Anwesenheit Pflicht, weil Klaus und Annette, um der Tradition gerecht zu werden, ihm und seiner Frau zum Dessert eine Tafel Schokolade überbringen. Ich weiß zwar eine ganze Menge, aber welchen Ursprungs diese Tradition ist, habe ich nie herausgefunden.
Gunter Mengers erscheint mit seinem Clan, zweiundzwanzig Leute. Eine riesige, mir mit den Jahren sehr lieb gewordene Familie. Großer Einmarsch. Annegret, von mir liebevoll »Königin
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