Gern hab ich Sie bedient: Aufzeichnungen des Oberkellners im Hotel Vier Jahreszeiten Hamburg (German Edition)
sich zum nächsten Mal sieht. Wie heißt es doch in Jakobus 4,15 so wahrhaftig: »Wenn der Herr will, werden wir noch leben und dies oder jenes tun.« Manche gehen anschließend in die Kirche, andere zur Bescherung nach Hause. Sie vergessen aber nicht, gleich für das kommende Jahr wieder ihren Tisch zu bestellen. Bis dass der Tod uns scheidet.
Der letzte Abend im Jahr
Ein Befreiungsschlag. Nach den anstrengenden Tagen und der vielen Arbeit mit sehr hektischen Gästen während der Adventszeit, die Karl Heinrich Waggerl noch »die stillste Zeit im Jahr« nennen konnte, ist es selbst für den engagiertesten berufsbewussten Oberkellner ein angenehmer Gedanke zu wissen: Jetzt geht’s für ein paar Tage ruhiger. Am Mittag des 31. Dezember findet, wie oben bereits berichtet, in Hamburg noch ein sehr wichtiger Termin statt: die Jahresschlussversammlung der »Versammlung Eines Ehrbaren Kaufmanns« in den Räumen der Handelskammer samt anschließendem Essen der Kaufleute im Grill.
Der letzte Abend im Jahr ist dann ein großer Abend. Für 19 Uhr wird in der eleganten Hotelhalle zu einem Champagnerempfang mit Veuve Clicquot geladen. Am Ende des Aperitifs hält Direktor Peters eine feierliche Rede. Er bedankt sich bei den Gästen für ihre vielen Jahre der Treue zum Hotel. Anschließend schreiten die Gäste in die verschiedenen Restaurants, wo Sie ein achtgängiges Galadiner erwartet. Während sie nun ihre Plätze einnehmen, möchte ich rasch die Gelegenheit nutzen, um zu erzählen, warum die verschiedenen Speisenfolgen heute allgemein »Gänge« genannt werden – zumindest hat eine vertrauenswürdige Kapazität es mir so erzählt.
Lange bevor wir das so wunderbar praktische elektrische Licht hatten, beleuchtete man Festsäle mit Kerzen, die maximal eine Stunde brannten. Dann wurde es duster. Um ein langes Abendessen mit vielen Gerichten im Lichterglanz zelebrieren zu können, bedurfte es der Auswechselung der kurzlebigen Kerzen. Mehr als ein Gericht wurde ohnehin nur bei Hof und bei Leuten von Stand serviert. Diese Herrschaften hatten große Häuser und Paläste mit vielen Räumen. Auch hochwertiges Silber, edles Porzellan und willfähriges Personal besaß man im Übermaß. Das vereinfachte das Ganze. Die Dienerschaft deckte die Tafel, bestückte die Lüster und Tischleuchter mit Kerzen. War die erste Speise aufgegessen, begab man sich in den nächsten Salon; dort war bereits die nächste Tafel gedeckt und hell brannten frische Kerzen. Diese Zeremonie konnte sich über fünf bis sechs Speisenfolgen hinweg fortsetzen. Man tat einen Gang in den nächsten Salon. Zwischenzeitlich erklang dann auch noch die oft gespielte Tafelmusik. Das Ganze hatte den Vorteil, dass man immer eine schöne, frisch gedeckte Tafel sowie gutes Licht hatte, und als angenehmen Nebeneffekt konnte der Hausherr auch noch die vielen mit Eleganz oder Prunk eingerichteten Räume zeigen.
Zurück zu unserem silvesterlichen Galadiner. Dieser Champagnerempfang war und ist schon ein sehr festliches Zusammensein. Viele Gäste sind zum wiederholten Male dabei. Wunderschöne Garderoben werden ausgeführt. Langes Abendkleid war stets Pflicht. Die Herren im Smoking. Doch ist diese gute alte Tradition in den letzten Jahren leider zunehmend im Schwinden begriffen. Ich muss mich wundern, wie viele Menschen heute gar nicht mehr wissen, was man unter »Black Tie« versteht. Speziell die Herren haben dann oft irgendeinen Fantasieanzug an, dass einem die Haare zu Berge stehen. Da werden hochmodische Anzüge zur Schau gestellt, die, wenn überhaupt, vielleicht bei einem fünfundzwanzigjährigen Dressman gut aussehen, nicht aber bei einem Mann von sechzig mit Bauch. Einer hat einen Frack aus Jeansstoff an und findet sich, seinen exorbitanten Gestikulationen nach zu deuten, enorm schick. Ein anderer trägt ein braunes Nachmittagssakko, welches er, zu allem Unglück, auch noch auszieht. Na ja, angesichts der Stilqualitäten des Sakkos ist es wohl letztlich sogar eher ein Glück. Da fällt mir nur ein: pas d’culture . Am meisten verwundert mich, dass die jeweilige Ehefrau oder Begleitung dem Herrn nicht sagt, wie lächerlich er in so einer Kluft aussieht. Auch hier frage ich mich: Wo ist der gute Geschmack geblieben?
Um halb elf kommt ein Anruf vom ehemaligen Chefredakteur einer großen Zeitung: »Herr Nährig, wir haben ein Problem …« Ich unterbreche ihn (zu Silvester erlaube ich mir manchmal kleine Ungepflogenheiten): »Und das wollen Sie jetzt zu meinem Problem
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