Gern hab ich Sie bedient: Aufzeichnungen des Oberkellners im Hotel Vier Jahreszeiten Hamburg (German Edition)
wieder ein paar Tränen, und jedem musste ich versprechen, dass es nicht der letzte Liederabend gewesen sein sollte. Es solle mindestens noch ein »Allerletzter« folgen. So kam es dann auch. Allerdings ist es bisher der letzte geblieben.
Aber was sagt man nicht alles, wenn man in Feierlaune ist.
Die Aufräumarbeiten dauerten bis drei Uhr früh. Ich blieb bis zum Schluss und habe jeden Handgriff ausgekostet, war doch jeder auf seine Art der letzte in diesem schönen Hotel.
Am nächsten Tag hatte ich noch ganz normalen Dienst im Grill. Den ganzen Tag über dachte ich immer wieder: »Mein Gott, was wirst du nun mit all der vielen Zeit anfangen?« Freizeitbeschäftigungen und Hobbys sind ja vor allem deshalb so interessant, weil man meist so wenig Zeit dafür hat. Ist die Zeit dann aber jeden Tag verfügbar, nimmt die Lust schnell ab. Das ist ja mit vielen Dingen so; ich will jetzt keine Beispiele nennen. Mein letzter Arbeitstag war aber dennoch kein wehmütiger, wie ich erst erwartet und befürchtet hatte. Ich war sehr gerührt, wie viele Gäste sich an diesem Tag die Mühe und mir die Freude machten, noch einmal in den Grill zu kommen und sich von mir so verwöhnen zu lassen, wie es über so viele Jahre hinweg meine liebe Gewohnheit gewesen ist. Da gab es dann das eine oder andere Geschenk; Bücher, Weinflaschen, Blumen. Die Bücher, wenn sie denn für mich von Interesse waren, hatte ich meist schon, die Blumen und Pralinen habe ich den Damen im kaufmännischen Büro gegeben, und guter Wein verdirbt ja nicht. Jedenfalls nicht bei mir.
Durch die letzten Liederabende ausgelöst, traf noch einiges an »Fanpost« ein, die ich wie immer selbst beantwortet habe. Von diesen »Fans« aufgefordert, kam ich noch einige Tage immer wieder ins Hotel. So konnte ich meine scheinbar drohende Bodenlosigkeit noch ein wenig hinausschieben. Doch es war nicht aufzuhalten, ich musste mich mit der neuen Situation anfreunden, ob ich wollte oder nicht.
Vorteile des Ruhestandes
Kurz vor meiner Pensionierung hatte ich einen älteren Nachbarn getroffen, der mir mit strahlendem Gesicht eröffnete: »Freuen Sie sich darauf, das wird die schönste Zeit.« Der ist verrückt, dachte ich, was gibt es schließlich Schöneres, als zu arbeiten? Doch bald musste ich mich selbst eines anderen belehren. Es ist schön, gebraucht zu werden, aber es müssen nicht zweiundfünfzig Jahre lang täglich zwölf bis vierzehn Stunden sein, während deren sich das Hamsterrad ohne Pause dreht. Und mein Nachfolger, Darius Wieczorek, macht seine Sache sehr gut, so dass ich keine Sorge habe, dass das Vier Jahreszeiten nicht auch ohne mich auskommen wird.
Um es kurz zu machen, all meine Furcht vor einer ungewissen, beschäftigungslosen Zukunft, die Ängste vor kommenden inhaltslosen Tagen waren völlig unnötig. Ich habe die neue Lebensspanne bisher Tag um Tag genossen.
Der Ruhestand hat auch eine Reihe von Vorteilen. So sind auch für mich die Begriffe Freizeit und Spontaneität nun keine leeren Wörter mehr. Meinen vielen Liebhabereien endlich nachgehen zu können, wann immer ich Lust dazu habe, ist sehr angenehm. Verabredungen können getroffen und eingehalten werden. Einladungen, welche ich von Gästen in der Dienstzeit immer ablehnen musste, kann ich jetzt annehmen, was ich in einigen Fällen sehr gerne mache.
Ich kann über einen Abend nun kurzfristig entscheiden und etwa in ein Restaurant meiner Wahl gehen. Zum Beispiel in das kleine »Genno’s« gleich bei mir um die Ecke, wo ich mich sehr wohlfühle. Es ist gut und nicht zu teuer. Dort gibt es wunderbares »kosmopolitisches« Essen. Hamburger Matjes-Tatar als Vorspeise und danach Kalbsgulasch Szegediner Art, ein Klassiker aus den Zeiten der großen österreichisch-ungarischen Monarchie, dazu Grünen Veltliner vom Gerhard Burger aus Unterdürnbach im Weinviertel. Von einem netten umsorgenden Ober, der alle Speisen mit treuen, ehrlichen Augen empfiehlt, verwöhnt zu werden ist eine Wohltat für Leib und Seele.
Auch Arztbesuche oder Amtsgänge können nun zur richtigen und passenden Zeit erledigt werden. Es ist nicht mehr erforderlich, einen Zahnschmerz mit schmerzstillenden Mitteln wochenlang »hinzuhalten«. Das ist wirklich angenehm.
Eine Urlaubsreise ganz nach Gusto zu planen ist herrlich. Man braucht nicht mehr darauf Rücksicht zu nehmen, wer Kinder hat und daher nur zu bestimmten Zeiten verreisen kann. Man muss sich nicht mehr darum kümmern, warum zum Beispiel dieser Kollege nur zu jener Zeit frei
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