Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
Erkenntnis: Das Ganze von vorne
April der Griff nach der chemischen Keule
Im Mai die Erwartung: Unwohlsein trägt Zinsen
Im Juni Belohnung: Befund ohne Tumor
Der Juli. Die Hitze. Die Chemo. Die Rundung
Des Bogens des Jahres der Ängste, der Hoffnung
August mit der Nachricht: Es sieht ziemlich gut aus
September im Süden. Die letzte Runde
Wird eingeläutet: Die Terapia
Begleitet von herbstlich strahlenden Tagen
Im Ospedale del Valdarno
Geweiht der Patronin gebeugter Patienten
»S. Maria alla Gruccia«:
Der Heil'gen Maria von der Krücke.
Exempla Docent
Beim Tomatenpflücken bleibt
mein Hemd an einer der Stangen
hängen und reißt.
Ritsch.
Beim Ausziehen bleibt
mein Blick am Etikett des Hemdes
hängen und liest: »Eterna.«
Ratsch.
10. September. Toscana Terapie
zum Zweiten
Heute alles Männer.
Männer sehen fern.
Frauen schwatzen, Frauen lachen.
Frauen hab ich gern.
Jeder kriegt das seine.
Nachbarmann kriegt Blut.
Schwester nennt ihn »Draculino«.
Schwester bin ich gut.
Einmal Sieger, immer Sieger
A:
Lance Armstrong hat erst den Krebs besiegt
und dann fünfmal die Tour de Frangse
als Sieger beendet. Ist der kein Beweis
für deine These »Krankheit als Schangse«?
B:
Der Krebs ist eine harte Nuß.
Vielleicht kann ich sie knacken.
Doch diese Tour, die werd ich kaum
- schon gar nicht fünfmal – packen.
Invasion der Bienenfresser
I
Nie hier gesehn! Und jetzt so viele!
Alle im Flug! Und alle so schön!
Alle kreisen und rufen. Und aller Tiefsinn
löst sich in Luft auf und Hochgefühl.
II
Ach, sagte die Biene,
die Welt wird weiter mit jedem Tag.
Waben umschlossen mich anfangs,
den Stock hielt ich für die Welt.
Doch dann der Ausschlupf,
der Ausblick, der Ausflug, der Aufstieg.
Und nun ich im Aufwind:
Im Blau lockt das Glück,
in das ich nun fliege.
- Du mußt nur die
Flugrichtung ändern,
sagte der Bienenfresser
und fraß sie.
17. September. Toscana Terapia
zum Dritten
Der »Campto« tropft.
Das müde Aug
durchwandert graue
Zeitung.
Bleibt hängen, weil's
»tumore« liest,
es geht um Anna
Magnani.
Vor dreißig Jahrn
starb sie in Rom.
Im Pankreas steckte
ihr Tod.
Sie kam auf fünf-
undsechzig Jahr.
Die toppen wir,
was, Campto?!
24. September. Toscana Terapia
zum Vierten
Fällt erst mal aus. Bei den globoli bianchi
säh es nicht gut aus, faxt Schwester Aurora.
Und ich hatte schon am Ende des Tunnels
der Chemo das Licht chemiefreier Tage
gesehen und Morgenluft gewittert – :
Nun aber blick ich in eine nicht gerade
schwarze, doch deutlich dunklere Zukunft,
und schuld daran sind meine weißen Blutkörperchen.
Von der Gewissheit
Hier bröselt es, da bröckelt es,
schon dräut ein Holterdipolter:
Aus all der Scheiße Honig ziehn,
das plante er, das wollt er.
Das gäb der Sache Sinn und Form,
das hoffte er, das dacht er.
Jetzt ahnt er: Also denkt das Kalb
auf seinem Weg zum Schlachter.
1. Oktober. Toscana Terapia
zum Vierten
Heute ist Mittwoch. Am letzten Sonntag
löste ein Schweizer Baum, der bei Brunnen
umfiel und einen Kurzschluß bewirkte,
den allitalienischen Blackout aus.
Der ist behoben. Doch seine Folgen
ziehen sich unüberseh-, -überhörbar
durch alle Kanäle bis in jene Klinik,
in welcher ein Tropf mich zum Zeugen vergattert:
Der Fernseh plärrt die ganze Zeit.
Wohin soll ich mich wenden?
Ach! Dieses Blackout-bla-bla-bla
kann nur ein Blackout enden!
Grosse Anrufung des
Heiligen Franziskus
San Francesco! Wenn ich nicht sehr irre, dann bist du
der Schutzpatron eines Italiens, in dem du vor Zeiten
den Vögeln gepredigt hast. War unter denen
nicht auch ein fringuello?
Ich frag das, da ich soeben der Zeitung entnehme,
mit dem heutigen ersten Oktober beginne das Jagen,
und das bis Ende November, auf einen Vogel
mit Namen fringuello.
Tierfreunde schätzen, daß 1,5 Millionen
dieser Geschöpfe dran glauben werden müssen.
Fragt sich: Woran? Sind immer noch, fürchte ich, Heiden,
deine fringuelli.
Wundert es dich? Seitdem du den beiden gepredigt,
den Italienern und den Vögeln des Landes,
machen die italienischen Christen Jagd
auf den Bruder fringuello.
Jagten die Vögel natürlich auch früher. Der Hunger
war vormals groß. Da wog selbst ein kleiner Bissen
schwerer als alle Liebe zu Gottes Geschöpfen,
inklusive fringuelli.
Tempi passati! Heute muß keiner mehr hungern.
Schon gar nicht einer der siebenundvierzigtausend
Jäger, die heuer erneut die
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