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Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Titel: Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gernhardt
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Erkenntnis: Das Ganze von vorne
    April der Griff nach der chemischen Keule
    Im Mai die Erwartung: Unwohlsein trägt Zinsen
    Im Juni Belohnung: Befund ohne Tumor
    Der Juli. Die Hitze. Die Chemo. Die Rundung
    Des Bogens des Jahres der Ängste, der Hoffnung
    August mit der Nachricht: Es sieht ziemlich gut aus
    September im Süden. Die letzte Runde
    Wird eingeläutet: Die Terapia
    Begleitet von herbstlich strahlenden Tagen
    Im Ospedale del Valdarno
    Geweiht der Patronin gebeugter Patienten
    »S. Maria alla Gruccia«:
    Der Heil'gen Maria von der Krücke.
    Exempla Docent
    Beim Tomatenpflücken bleibt
    mein Hemd an einer der Stangen
    hängen und reißt.
    Ritsch.
    Beim Ausziehen bleibt
    mein Blick am Etikett des Hemdes
    hängen und liest: »Eterna.«
    Ratsch.
    10. September. Toscana Terapie
zum Zweiten
    Heute alles Männer.
    Männer sehen fern.
    Frauen schwatzen, Frauen lachen.
    Frauen hab ich gern.
    Jeder kriegt das seine.
    Nachbarmann kriegt Blut.
    Schwester nennt ihn »Draculino«.
    Schwester bin ich gut.
    Einmal Sieger, immer Sieger
    A:
    Lance Armstrong hat erst den Krebs besiegt
    und dann fünfmal die Tour de Frangse
    als Sieger beendet. Ist der kein Beweis
    für deine These »Krankheit als Schangse«?
    B:
    Der Krebs ist eine harte Nuß.
    Vielleicht kann ich sie knacken.
    Doch diese Tour, die werd ich kaum
    - schon gar nicht fünfmal – packen.
    Invasion der Bienenfresser
    I
    Nie hier gesehn! Und jetzt so viele!
    Alle im Flug! Und alle so schön!
    Alle kreisen und rufen. Und aller Tiefsinn
    löst sich in Luft auf und Hochgefühl.
    II
    Ach, sagte die Biene,
    die Welt wird weiter mit jedem Tag.
    Waben umschlossen mich anfangs,
    den Stock hielt ich für die Welt.
    Doch dann der Ausschlupf,
    der Ausblick, der Ausflug, der Aufstieg.
    Und nun ich im Aufwind:
    Im Blau lockt das Glück,
    in das ich nun fliege.
    - Du mußt nur die
    Flugrichtung ändern,
    sagte der Bienenfresser
    und fraß sie.
    17. September. Toscana Terapia
zum Dritten
    Der »Campto« tropft.
    Das müde Aug
    durchwandert graue
    Zeitung.
    Bleibt hängen, weil's
    »tumore« liest,
    es geht um Anna
    Magnani.
    Vor dreißig Jahrn
    starb sie in Rom.
    Im Pankreas steckte
    ihr Tod.
    Sie kam auf fünf-
    undsechzig Jahr.
    Die toppen wir,
    was, Campto?!
    24. September. Toscana Terapia
zum Vierten
    Fällt erst mal aus. Bei den globoli bianchi
    säh es nicht gut aus, faxt Schwester Aurora.
    Und ich hatte schon am Ende des Tunnels
    der Chemo das Licht chemiefreier Tage
    gesehen und Morgenluft gewittert – :
    Nun aber blick ich in eine nicht gerade
    schwarze, doch deutlich dunklere Zukunft,
    und schuld daran sind meine weißen Blutkörperchen.
    Von der Gewissheit
    Hier bröselt es, da bröckelt es,
    schon dräut ein Holterdipolter:
    Aus all der Scheiße Honig ziehn,
    das plante er, das wollt er.
    Das gäb der Sache Sinn und Form,
    das hoffte er, das dacht er.
    Jetzt ahnt er: Also denkt das Kalb
    auf seinem Weg zum Schlachter.
    1. Oktober. Toscana Terapia
zum Vierten
    Heute ist Mittwoch. Am letzten Sonntag
    löste ein Schweizer Baum, der bei Brunnen
    umfiel und einen Kurzschluß bewirkte,
    den allitalienischen Blackout aus.
    Der ist behoben. Doch seine Folgen
    ziehen sich unüberseh-, -überhörbar
    durch alle Kanäle bis in jene Klinik,
    in welcher ein Tropf mich zum Zeugen vergattert:
    Der Fernseh plärrt die ganze Zeit.
    Wohin soll ich mich wenden?
    Ach! Dieses Blackout-bla-bla-bla
    kann nur ein Blackout enden!
    Grosse Anrufung des
Heiligen Franziskus
    San Francesco! Wenn ich nicht sehr irre, dann bist du
    der Schutzpatron eines Italiens, in dem du vor Zeiten
    den Vögeln gepredigt hast. War unter denen
    nicht auch ein fringuello?
    Ich frag das, da ich soeben der Zeitung entnehme,
    mit dem heutigen ersten Oktober beginne das Jagen,
    und das bis Ende November, auf einen Vogel
    mit Namen fringuello.
    Tierfreunde schätzen, daß 1,5 Millionen
    dieser Geschöpfe dran glauben werden müssen.
    Fragt sich: Woran? Sind immer noch, fürchte ich, Heiden,
    deine fringuelli.
    Wundert es dich? Seitdem du den beiden gepredigt,
    den Italienern und den Vögeln des Landes,
    machen die italienischen Christen Jagd
    auf den Bruder fringuello.
    Jagten die Vögel natürlich auch früher. Der Hunger
    war vormals groß. Da wog selbst ein kleiner Bissen
    schwerer als alle Liebe zu Gottes Geschöpfen,
    inklusive fringuelli.
    Tempi passati! Heute muß keiner mehr hungern.
    Schon gar nicht einer der siebenundvierzigtausend
    Jäger, die heuer erneut die

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