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Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Titel: Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gernhardt
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senkrecht an der Wand.
    Spricht er von »palliativ«,
    hängt der ganze Segen schief.
    Denn das Wort bedeutet schlicht:
    Wahre Heilung gibt es nicht.
    Woraus folgert: Der Klient
    bleibt ein Leben lang Patient
    einer Medizin, die schaut,
    daß er nicht zu rasch abbaut.
    Leben strecken, Leiden lindern,
    Trübsal dämpfen, Schmerzen mindern -
    all das ist zutiefst sozial,
    unterm Strich jedoch fatal,
    da es auf ein Ende zielt,
    das stark ins Finale spielt:
    Dürrer werden, matter werden,
    Abschied nehmen von der Erden,
    nach und nach – zuerst vom Kiez,
    dann vom Heim, dann vom Hospiz,
    dann, zum Sterben durchgewunken,
    sprich: palliativ gesunken,
    siehst du endlich wieder Land:
    So ein Tod heilt adjuvant!
    Ermahnung
    Ruf nicht nach der Mutter, Junge.
    Mutter ruft nach dir.
    Sag ihr nicht, wie schlecht dir's geht.
    Mutter geht es schlechter.
    Klag nicht übers Alter, Junge.
    Mutter ist viel älter.
    Frag nicht, wie das enden soll.
    Mutter weiß die Antwort.
    Vor dem Spiegel
    Auch ich war einst ganz makellos -
    woher rührt all mein Makel bloß?
    Ich frag mich, was mein Makel soll -
    warum bin ich so makelvoll?
    Fragt ihr nicht, was mein Makel sei -
    fragt: Wird der
    jemals
    wieder
    makel-
    frei?
    Schlaflied für Aschenputtel
    Kind, es wird alles wieder gut
    Es ist nicht immer Schuh im Blut
    Es ist auch manchmal Blut im Schuh
    Und nun mach deine Augen zu!
    Hiob vor dem Spiegel
    Auch ich war ein Knabe im lockigen Haar
    - Har! Har!
    Ach, ich bin nicht der, der ich früher mal war
    - Wahr! Wahr!
    Das ist kein Haar, Herr!
    Das ist Flaum!
    Die Hand, sie spürt die Härchen kaum,
    wenn sie darüber streicht.
    Die sind so weich, die sind so zart,
    die modeln meinen Kopf derart,
    daß er dem Säugling gleicht.
    Als Knabe kam ich vom Frisör.
    Mein Kopf war kahl, mein Herz war schwer.
    Ich wußte, was mir blühte.
    Denn draußen stand der Kinder Schar,
    für die ich »Glatzekönig« war.
    Sie schrie es, und ich glühte.
    Als Jüngling trug ich's ellenlang,
    das Haar, das auf die Schultern sank
    und manchmal noch darüber.
    Als Folge war die Welt vermint:
    »Langhaarje wern hier nich bedient!«
    Mir war die Haarpracht lieber.
    Als reifer Mann beschied ich knapp:
    »Martina, schneiden Sie sie ab!«
    Dann fielen meine Haare.
    Dem Haarschnitt folgte viel Applaus:
    »Du siehst auch gleich viel jünger aus!«
    Fragt sich nur, wieviel Jahre.
    So wurde ich, was jeder wird,
    der lang genug durchs Leben irrt:
    Ein Herr mit grauen Schläfen.
    Die Blicke mancher schönen Frau
    verfolgte ich so haargenau,
    als ob sie mich beträfen.
    Was mich dann traf, war nicht so schön.
    Herr, es ist nicht zu übersehn,
    was sich da oben abspielt.
    Du schufst den Krebs, schufst die Chemie,
    den Haarausfall, und mensch weiß nie,
    worauf das alles abzielt.
    Herr, das ist Flaum!
    Das ist kein Haar!
    Wird bald der Glatzekönig wahr
    aus frühen Kindertagen?
    Was weiß denn ich? Ich weiß nur eins:
    Wo einst viel Haar war, ist jetzt keins.
    Das Herr, ist einzuklagen:
    Einst war'n meine Haare schön dicht und schön kraus
    - Raus! Raus!
    Heut sind sie so dünn wie das Fell einer Maus
    - Aus! Aus!
    3. September. Toscana Terapia
zum Ersten
    1
    Siamo in Italia!
    Die Chemie ist auch schon da:
    Im Klinikum Valdarno hängt,
    das Fläschchen, das Gesundung schenkt.
    Sehr träg tropft »Campto« in mich rein -
    ach, wär der Stoff doch Chiantiwein!
    2
    Ich blicke auf den Chiantikamm.
    Wie schön die Hügel aussehn!
    Und doch: Was nützt der schönste Kamm
    dem, dem die Haare ausgehn?
    3
    Sieh nur, die Weihe
    im rasenden Wind
    auf dem Wege zum Chianti!
    Sie weiß, was sie will,
    und du weißt, was du nicht willst.
    Avanti!
    Hahn im Korb
    Ich, der einzige Mann unter sieben Frauen,
    Wir, alle betagt und alle am Tropf,
    Sie, die gerade vom Haarausfall reden und davon,
    Es sei das beste, zu »La Parrucca« zu gehen,
    Sie sei leicht im Zentrum Arezzos zu finden,
    Ihr, so die eine, hab' man dort wirklich geholfen.
    Er, im sich lichtenden Haar, hört zu und fragt sich:
    »Du – bist nicht auch du bald reif für ›La Parrucca‹?«
    2002/ 2003
Ein Jahresrückblick
    Was war da? Erinnerung spricht: Da war was.
    Im Juli die Nachricht: Es sieht gar nicht gut aus
    August dann der Schnitt und die Hoffnung: Das war es
    September Verheilung auf südlichem Hügel
    Oktober in Frankfurt. Neues Buch, alte Messe
    November auf Reisen. Gefühl des Gefeitseins
    Dezember Geburtstag. Halbrund, reichlich Echo
    Januar Lug und Trug der Zellen
    Februar letzter Monat der Blindheit
    März die

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