Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
Ermessen nicht auffliegen konnte. Was er denn auch nicht tat: Meinem Vortrag schloß sich nicht nur eine einfühlsame, vielstimmige Interpretation an, sondern auch ein eindringlicher Vergleich dieses Gedichts mit einem zuvor gehörten Werk von Weinheber – ein kritisches Abwägen zweier Kunstwerke, das ganz und gar zu »Trakls« Gunsten endete.
»Retrospektakel« hätte natürlich auch »Im Benn-Ton« überschrieben werden können, ein Tonfall, der 1955 äußerst suggestiv gewirkt haben muß, da ich in meinen Kladden aus dem letzten Schuljahr gleich zwei Benn-Paraphrasen, um nicht zu sagen: Parodien, gefunden habe, deren eine ebenfalls ganz schön suggestiv schließt:
Erinnerung vibriert
Rudimentäres
Brunftruf der Urzeit
sonnend, sinkend
verläßt das Großhirn
rauschentblößt und schweigend.
Im gleichen Heft finden sich ein Ezra-Pound-Echo sowie eine Reaktion auf ein Gedicht von Albrecht Goes, die nicht ohne Witz ist. Von dem Goes-Gedicht weiß ich nur noch so viel, daß mich der hohe Ton belustigt hatte, in welchem der Pfarrer und Dichter Goes den Thomaskantor Johann Sebastian Bach nicht nur geniusmäßig über Land schreiten, sondern auch bedeutungsschwer seinen Namen in den Sand schreiben ließ: b-a-c-h. Solch reichlich raunend vorgetragener Geniekult animierte mich während des Deutschunterrichts zu dem Versuch, die etwas wohlfeile Methode der Bedeutungserschleichung durch Gesperrtschreibung des Namens auf einen anderen, längernamigen Künstler anzuwenden:
Das Jahr strebt flammend
nach dem Glanz der Reife.
Fanal und Bild
im silbergrauen Himmel,
aufsteht ein Mann
zyklopenhaft verschattet.
Aufsteht der Geist
vom Daseinsweh gefüllt. Und
sinnt. Und schweigt. Und
schaut. Und ragt. Und
starrt. Und schreibt.
Schreibt nieder: m-i-c-
h-e-l-a-n-g-
o großes Dennoch,
weltgestaltend Trotzdem,
geworfen in den Strom des Lebens,
ein stehend Mal im Sturm
des Gottesodems.
»U-Bahn Thielplatz-Hallesches Tor« entstand während einer Fahrt von der Freien Universität zur Amerika-Gedenkbibliothek; an der FU studierte ich, der staatlich geprüfte Kunsterzieher, fürs Beifach Deutsch Anfang der 60er Germanistik. Die Alexandriner lassen vermuten, daß gerade Barock-Lyrik auf dem Lehrplan stand; an weiteren Gedichten aus der Berliner Zeit, die teils bereits im Hau (»Frage«), teils in Besternte Ernte (»Viel schon ist getan«), teils erst in Ich Ich Ich (»Nur wenigen ist es bestimmt, zu malen«) Aufnahme fanden, läßt sich ablesen, daß das Studium mich offenbar dazu animierte, auch andere Tonfälle und Gedichtformen auf Machart und Verwendbarkeit hin abzuklopfen.
Hau-Gedichte – Sie wurden dem Buch Die Wahrheit über Arnold Hau entnommen. Ein heikler Eingriff, da dieses erstmals 1966 aufgelegte Buch ein Gemeinschaftswerk ist: Friedrich Karl Waechter und der Studienkollege Fritz Weigle alias F. W. Bernstein waren zeichnend und schreibend mit von der Partie. Zwar steht die Autorschaft meiner Person im Falle der hier versammelten Hau-Gedichte zweifelsfrei fest, doch kann von einem Personalstil kaum die Rede sein, da wir allesamt damals nicht darauf aus waren, dem je unverwechselbaren Ich zum Ausdruck zu verhelfen, sondern darauf, selbstlos einem gemeinsam erahnten und herbeibeschworenen Hau-Geist zu dienen.
Allerdings war der Zeitgeist 1966 noch nicht reif für den Hau-Geist. Die Wahrheit über Arnold Hau wurde bald nach Erscheinen verramscht, erlebte in der Folgezeit jedoch mehrere Auferstehungen. Die erste, als der Zweitausendeins Versand 1974 einen Reprint wagte. Dann 1981, als er Die Wahrheit über Arnold Hau zusammen mit Besternte Ernte und Die Blusen des Böhmen unter dem Sammeltitel Die Drei anbot. Der dritten Auferstehung, 1995, als der Haffmans Verlag eine Lizenzausgabe der Drei auflegte und den Hau nach fast dreißig Jahren wieder in die deutschen Buchhandlungen brachte, folgte 1996 als vierte die Ausgabe des Fischer Taschenbuch Verlages.
1982fiel mir ein Buch in die Hände, das ich in der ›Titanic‹-Kolumne »Humorkritik« aus nicht ganz uneigennützigen Gründen vorstellte. Es nannte sich Freiheit für Grönland – weg mit dem Packeis und versprach in der Unterzeile »200 Sprüche von den Wänden der Frankfurter Universität«. Ausgewählt hatte sie Albert A. Schmude, erschienen war das Werklein im Rita G. Fischer Verlag, Frankfurt, und nach einigen einleitenden Überlegungen zum Wesen des Zeitgeists und zu der Authentizität von Sponti-Sprüchen kam ich zur Sache:
»Doch
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