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Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Titel: Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gernhardt
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stand
    Kündet davon, daß das unbedingt raus mußte
    Zeugt davon, daß der, den es drängte
    schnell was aus einem Guß hinlegte
    Diesen Pissefleck am Fuß der Rolltreppe der
    U-Bahn-Station Miquel-Adickes-Allee
    Vor Augen gedenk ich der Stimmen
    die heut zu mir sprachen, so
    drucklos, so dranglos, so
    schwunglos, so harmlos, so
    bißlos, so zwanglos, so
    harnlos, so hirnlos.
    Der Tag, an dem ich Unseld
übersah
    Am Tag, an dem ich Unseld übersah -
    Es war in Frankfurt. Ich war auf der Messe,
    die Bücher sehend, dacht ich: Meine Fresse,
    das alles schrieb, nur ich habe geschwiegen,
    das alles wurde, mein Projekt blieb liegen,
    wie war das möglich, daß mir dies geschah?
    Am Tag, an dem ich Unseld übersah -
    Ich hatte nichts geschafft, nun war mir elend,
    die andren trumpften auf, es war schlicht quälend,
    dies Werk an Werk, das füllte die Regale
    in voller Breite, und mit einem Male
    begriff ich: Ich war gar nicht da!
    Am Tag, an dem ich Unseld übersah -
    Ich ging daran, mich langsam auszuklinken,
    wer schon nichts tut, soll wenigstens gut trinken,
    da tönt wer rum: Der Gernhardt übersieht mich!
    Ich denke noch: Der Gernhardt? Ja, bezieht sich
    das denn auf mich? Und: Wer macht so 'n Trara?
    Am Tag, an dem ich Unseld übersah -
    Ich schwieg verwirrt. Er winkte mir im Gehen.
    Da spür ich Stolz: Ich hab ihn übersehen.
    Er war nicht da, weil ich, der Überseher,
    ihn übersah. So kamen wir uns näher.
    Nur näher? Waren wir uns da nicht nah?
    Im Namen der Barmherzigkeit: Sagt ja!
    Wortschwall
    Erst tropft es Wort für Wort. Dann eint ein Fließen
    Solch Tropfen in noch ziellos vagen Sätzen,
    Die frei mäandernd durst'ge Ganglien netzen,
    Aus welchen wuchernde Metaphern sprießen
    Und wild erblühn. Und sich verwelkend schließen,
    Nun Teil der Wortflut, wenn auch nur in Fetzen,
    Das will vermengt zur Sprachbarriere hetzen,
    Um sich von Satz zu Absatz zu ergießen,
    Bis tief ins Tal. Dort füllen Wortkaskaden
    Ganz ausgewaschne, sinnentleerte Becken,
    In welchen doch seit alters Dichter baden.
    Daß dies Bad sinnlos ist, kann die nicht schrecken:
    Ein Wortschwall reicht, um die maladen Waden
    Mit frischer Schreit- sprich Schreiblust zu begnaden.

IV
    In Trauer
    Trauer
    Trauer ist schrecklich.
    Jeder glaubt, dir nah zu sein:
    Ich habe mal getrauert, du trauerst jetzt,
    das gebietet mir, für dich da zu sein.
    (Sieht der Mitfühlende einen Trauernden,
    muß er ihn gleich umarmen.
    In seinem Bestreben, barmherzig zu sein,
    kennt er kein Erbarmen.)
    Trauer ist wirklich.
    Der Trauernde ist wirklich gebrochen.
    Die Trauer drückt ihn wirklich zu Boden.
    Er durchlebt wirklich harte Wochen.
    (Aber da bleibt ein Stachel:
    Wie, wenn meine Trauer nicht ausreicht?
    Wenn ihre Tiefe nicht derart ist,
    daß sie die Größe des Verlusts ausgleicht?)
    Trauer ist endlich.
    Und jeder Trauernde ein Verräter,
    der sich fügt und Vernunft annimmt,
    früher oder später.
    (Irgendwann hat es sich
    jedenfalls ausgetrauert.
    Cosima glaubte, nach Richards Tod vergehen zu müssen.
    Sie hat ihn dann siebenundvierzig Jahre überdauert.)
    Wettlauf
    Da ist eine tot,
    und da ist einer lebendig.
    Je länger sie schweigt,
    desto mehr gibt er sich geständig.
    Die Tote wird nie wieder sprechen.
    Eher verstummt er, der Lebendige.
    Die eine ist die Unbewegte,
    der andere daher der Wendige.
    Dieser Wendige schlägt Haken um Haken.
    Er läuft ganz einfach um sein Leben.
    Solange da solch ein Igel ist,
    muß es solche Hasen geben.
    Wie er sich abmüht, der Hase!
    Gehetzt blickt er in den Spiegel.
    Doch wie hoffnungsvoll er auch hineinschaut,
    heraus schaut immer der Igel.
    Ihr, die ihr diese Zeilen lest,
    ergreift Partei für den Hasen!
    Wir Verlierer müssen zusammenhalten,
    bis unter den Rasen.
    Trotz
    Ich geh zu deinem Grabe nicht
    Ich steh an deinem Grabe nicht
    Ich knie vor deinem Grabe nicht
    Ich flieh von deinem Grabe nicht -
    Du kommst ja auch nicht
    zu meinem
    Am Ende liegt jeder
    in seinem.
    Geduld
    Du gehst nicht zum Grab,
    du fühlst dich schuldig.
    Wenn Tote eins nicht sind,
    dann: ungeduldig.
    Du stehst im Leben,
    bestellst deinen Garten.
    Wenn Tote eins können,
    dann ist es: warten.
    Gehn oder Nichtgehn
    bleibt dir unbenommen.
    Wenn Tote eins wissen,
    dann dies: Du wirst kommen.
    Geburtstag
    Billig so eine Tote, sie kostet
    das Jahr über nichts, es sei denn, man gönnt ihr
    nach eignem Ermessen ab und zu Blumen.
    Sieht besser aus und zeugt von Gedenken.
    Nun, da sie fünfzig geworden ist, hab ich
    ihr Chrysanthemen aufs Grab

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