Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
gestellt, die ich
schon für sechs Mark bekommen hab. Als ich
selbst fünfzig wurde, war's wesentlich teurer.
Weißwein und Rotwein und Sekt und die Schwere
zahlloser Speisen bogen die Tische,
an denen die Menge der tafelnden Gäste
sich's wohlsein ließ und die Helfenden schwitzten,
sie immer vorneweg. Vor drei Jahren
ging das ins Geld. Nun geht sie selbst leer aus.
Nehmen tun nur die Lebenden, Tote
brauchen nichts, kaufen nichts, halten nichts, altern nicht.
Prozess
Ich war praktisch dauernd bei ihr
Ich bin für alles geradegestanden
Ich hielt ihre Hand, wenn die Anfälle kamen
Ich telefonierte mehr als einmal nach dem Notarzt
Sie hatte es schwer, doch ich hatte es auch nicht leicht -
»Du weißt, daß das nicht reicht.«
Ich weiß.
Ich hätte meine Hand für sie gegeben
Ich habe ihr meine Nächte geopfert
Ich kam selbst ganz runter in den Jahren
Ich bin noch heute ziemlich am Boden
Es klingt vielleicht blöd, wenn man das vergleicht -
»Du weißt, daß das nicht reicht.«
Ich weiß.
Ich werde ebenfalls mal sterben
Ich hoffe, dann kümmert sich auch wer um mich
Ich jedenfalls habe mich gekümmert
Ich habe mir nicht das Geringste vorzuwerfen
Schulden tilgt man dadurch, daß man sie begleicht -
»Du weißt, daß das nicht reicht.«
Ich weiß.
Ich war häufig nicht bei ihr
Ich habe mein eigenes Leben gelebt
Ich hielt mich anderswo auf, wenn die Anfälle kamen
Ich telefonierte, um sie auf mein Ausbleiben vorzubereiten
Sie hatte es schwer, und ich machte es mir leicht -
»Du weißt, daß das nicht reicht.«
Ich weiß.
Ich habe meine Hand immer noch
Ich verbringe wieder ungestörte Nächte
Ich habe mich wieder einigermaßen gerappelt
Ich fühle mich wieder ziemlich obenauf
Sterben ist nun mal tief, und leben ist nun mal seicht -
»Du weißt, daß das nicht reicht.«
Ich weiß. Ich weiß. Ich weiß.
Jahrestag
Als du starbst, weißt du,
war so tolles Wetter,
Sonne von Schweden bis Sizilien.
Auf halber Strecke du, der die Luft wegblieb
und der das Herz brach,
unter dem wolkenlosen Himmel,
der Europa überspannte.
Zwei Jahre später:
Es schüttet und schüttet.
Kein Wetter fürn Friedhof, du mußt schon entschuldigen.
Auf halber Strecke ich, der es aufgab,
mich vor dir zu verneigen,
heute, unter dem tiefgrauen Himmel,
der uns hier das Leben schwer macht.
Hyänen
Das unterscheidet den Menschen von den Tieren:
Er kann selbst den Tod instrumentalisieren.
Das Tier verreckt, der Mensch geht dahin.
Das Tier stirbt sinnlos, beim Mensch macht es Sinn.
Der Tod des Menschen ernährt Interpreten
In Form von Gedichten oder Gebeten:
Die Dichter, die Priester -
Sinngeile Biester.
Die Priester, die Dichter -
Feiles Gelichter.
Wiederholung
Das war ihr letzter Herbst. Wir gingen
den Fluß entlang. Der mündete im Meere.
Das Meer war blau und weit und öde.
Beim Anblick freuten wir uns auf den Rückweg.
Auf dunkles Laub vor blendend hellem Wasser.
Auf die zum Platzen pralle Frucht im Lichtfleck.
Auf den Geruch der Blätter in Verwesung.
Auf Wärme, Kühle und auf deren Wechsel.
Vier Jahre später. Wieder ein Fluß.
Wieder ein Herbst. Und beim Gang durch die Gärten
wieder die Früchte, das Licht und der Vorsatz,
so bald wie möglich wiederzukommen.
PRATOMAGNO
Seh ich den Berg,
seh ich auch sie,
die diesen Berg gemalt hat,
der taubensanft und pflaumenblau
dermaßen schön entrückt war,
daß sie den Pinsel sinken ließ:
»Wie soll man das da malen!«
So, aufgebracht und angeregt,
nahm sie die Arbeit wieder auf.
V
Übersetzungen
Gnadenlos schön
(Freie Fassung)
Wenn schöne Frauen morgens sich erheben,
Nicht ahnend, worein abends sich verwandeln,
Doch wissend, daß nur selbstverliebtes Handeln
Aus Hiersein Dasein macht, aus Dasein Leben,
Da doch nur die befähigt ist, zu geben,
Die es gewagt hat, alles sich zu nehmen,
In tausend Masken, ohne sich zu schämen,
Aus tausend Herzen, ohne je zu beben -
So gehn sie in den Tag. Mit harten Schritten,
Daß unter ihrer starken Füße Tritten
Der Krumme grade wird, der Schiefe eben,
Der Weiche fest. Vergeblich alle Bitten
Um Gnade: Nur wer solchen Tag durchlitten
Darf nachts in ihren Armen steil entschweben.
Schöne Frauen ohne Gnade
(Wörtliche Fassung)
Schöne Fraun, die am Morgen nicht wissen:
In was werden wir uns am Abend verwandelt haben
betrachten sich verliebt im Spiegel:
Ich bin hier und dort zugleich, also lebe ich
Sie finden nichts dabei, sich hinzugeben
doch noch lieber
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