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Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Titel: Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gernhardt
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ihre Pisse ruckweis höher,
    worauf die mäandernd die Tapete
    runterfloß und satt im Teppich aufging.
    Jedenfalls fast immer, denn bisweilen
    hielt die Katze voll auf den Metallschrank,
    einst gekauft als dauerhafte Obhut
    höchst fragiler Kunst, nun selbst verletzbar.
    Denn das zarte Tier verspritzte Säure,
    die, nicht weggewischt, kristallisierte,
    durch die Farbe drang, bis sie am Ziel war,
    dem Metall. Und das begann zu rosten.
    Pünktchen waren's erst, dann waren's Flecken,
    Flecken schlossen sich zu braunen Feldern,
    flüchtig einst Benetztes fand Jahrzehnte
    keine Ruh': Was dauert, ist der Wandel.
    Elend lange her das Ganze. Heute
    sind sie längst verschieden, Kunst wie Katze.
    Leblos wie die Blätter in den Fächern
    ruht die Katz, es hat sich ausgezinkelt.
    Aber uns zwei beide, Rost und Robert,
    gibt's noch immer, einer schon recht rostig.
    Aber er! Da so ein Rost nicht rastet,
    rostet er auch nicht. Das lebt und frißt sich
    fort und fort und durch und durch, bis schließlich
    mit dem Fraß sich auch der Fresser auflöst:
    Wo nichts ist, kann nichts mehr rosten. Aber
    noch ist er am Werk, das jede Stunde
    weiterwächst, indem das weiterschwindet,
    was es nährt: Schier ewig währt das Enden.
    Schau nur hin! Es wird das Werk der Katze
    dich und mich und unser beider Werke
    locker überleben, ganz zu schweigen -
    Ja, mein Freund, schweige!
    Nie sprachst du wahrer.
    Nach so viel Durchblick
    hilft nur ein Kümmel.
    Für Rosa
    Immer weniger können
    Immer mehr nicht mehr können:
    Nicht mehr hinten hoch können
    Nicht mehr vorne hoch können
    Nicht mehr fressen können
    Nicht mehr trinken können
    Nicht mehr scheißen können
    Nicht mehr pissen können
    Nicht mehr lecken können
    Nicht mehr strecken können
    Noch zucken können
    Noch schnaufen können
    Nicht mehr zucken können
    Nicht mehr schnaufen.
    Freund der Geschichte in Rom
    Geschichte ist kein Lehrbuch,
    Geschichte ist ein Sumpf.
    Wer immer den durchmessen wollt',
    dem wurd' der Maßstab stumpf,
    dem wurd' der Maßstab rostig
    am ausgestreckten Arm,
    die feuchten Finger frostig,
    indes der Kopf noch warm.
    Nicht lange! Und auch ihn verschlingt
    ganz bodenlose Kühle:
    Für den, der sich vertiefen will,
    das höchste der Gefühle.
    Vertaner Tag
    Vertaner Tag! Ich war zu klug
    Leer blieb der Hut der Bettlerin
    Sie war so schlecht, ich nahm ihr nicht
    Die Krücken, nicht das Zittern ab
    Geschweige denn das wunde Bein:
    So legte diese Frau mich rein.
    Denn wer sich nicht erbarmt,
    Verarmt.
    Vertaner Tag! Ich war zu stark
    Ich redete, der andre schwieg
    Er war so schwach, ich drückte ihn
    Wie 'ne Zitrone an die Wand
    Hielt ihn dort nach Belieben fest:
    So hat der Kerl mich ausgepreßt.
    Denn der, der ständig spricht,
    Lernt nicht.
    Vertaner Tag! Ich war zu gut
    Auf Schritt und Tritt fiel mir was ein
    Fiel mir was auf. Fiel sich ins Wort
    Das war des Guten schlicht zuviel
    Zum Halten fehlte mir die Kraft:
    So hat der Reichtum mich geschafft.
    Denn was sich nur ergießt,
    Zerfließt.
    Am Abend der ersten Extraktion
    Ich bin nicht mehr vollkommen,
    ein Zahn ward mir genommen.
    Ein Zahn, der über fünfzig Jahr
    in meinem Munde heimisch war.
    Ein Zahn, der stolz und selbstgewiß
    noch härtestes Gebäck zerbiß.
    Ein Zahn, der kaute, lebte, litt,
    bis man ihn aus dem Zahnfleisch schnitt:
    Heut morgen lag er nackt und klein
    vor mir, ein Kind aus Elfenbein.
    Ein Teil von mir, ein Stück, das fehlt,
    obwohl es mich nun nicht mehr quält.
    Die Zunge sucht an diesem Fleck.
    Vergeblich. Denn der Zahn ist weg.
    Statt dessen derart wunde Haut,
    daß sie die kaum zu lecken traut.
    Der Zahn ist fort, es ist soweit.
    Mein Zahn verging vorm Zahn der Zeit.
    Er ging voran, der Rest folgt nach:
    Heut abend lag ich lange wach.
    Am Vorabend der Vierten
    Immer weniger Zähne
    stehn mir im Munde umher.
    Einer geht nach dem andern,
    die Lücken werden mehr.
    Der Zahn geht unter Schmerzen.
    Schmerzlos dauert die Lücke.
    Wer so etwas einmal erlebt hat, geht
    geradezu gerne in Stücke:
    Hinfort mit allem, was da ist!
    Was weg ist, kann nicht leiden.
    Und man wird das, was übrigbleibt,
    als blankes Nichts beneiden.
    Glückliche Trennung
    Ich möchte aus meiner Mundhöhle ausziehn
    Ich will mich mit Zahnfleisch und Zähnen lagern
    Längs eines Bächleins silbernem Rieseln
    Und davon reden, wie schwer wir es hatten
    Ihr immer im Dunkel
    Ich immer in Ängsten
    Wir immer fremd.
    Ich möchte aus meiner Mundhöhle ausziehn
    Ich will mit Zahnfleisch und Zähnen besprechen
    Eingebettet

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