Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
erkundet
Der Brief ist gelesen worden
Das Virginal ist gespielt
Der Brief ist aufgesetzt
Die Spitze ist geklöppelt
Die Gitarre ist beiseite gestellt worden
Die Schlange ist zertreten
Die Frau ist vollendet
Das Virginal ist zugeklappt
Die Vermeers sind betrachtet worden
Alle fünfunddreißig verbürgten Vermeers
sind Bild für Bild
in der Reihenfolge ihres Entstehens
betrachtet worden.
Als er am Abend des 5 . 3 . 1996
vor dem Haager Mauritshuis stand
Die Magd hat den Milchkrug abgestellt,
für heute ist er leer.
Die Wägende setzt die Waage ab,
für heute wiegt sie zu schwer.
Der Forschende legt den Zirkel beiseit,
für heute erübrigt sich der.
Die Umworbene weist den Wein zurück,
für heute mag sie nicht mehr.
Die Schreibende unterbricht den Brief,
für heute braucht's kein Kuvert.
Die Lesende versagt sich den Schluß,
für heute eilt der nicht sehr.
Die Wartende schließt das Virginal,
für heute kommt kein Mijnheer.
Und auf allen Bildern verdämmert das Licht:
Gute Nacht, Familie Vermeer!
Ballade von der Lichtmalerei
Leg etwas in das Licht und schau,
was das Licht mit dem Etwas macht,
dann hast du den Tag über gut zu tun
und manchmal auch die Nacht:
Sobald du den Wandel nicht nur beschaust,
sondern trachtest, ihn festzuhalten,
reihst du dich ein in den Fackelzug
von Schatten und Lichtgestalten.
Die Fackel, sie geht von Hand zu Hand,
von van Eyck zu de Hooch und Vermeer.
Sie leuchtete Kersting und Eckersberg heim
und wurde auch Hopper zu schwer.
Denn die Fackel hält jeder nur kurze Zeit,
dann flackert sein Lebenslicht.
Doch senkt sich um ihn auch Dunkelheit,
die Fackel erlischt so rasch nicht.
Sie leuchtet, solange jemand was nimmt,
es ins Licht legt und es besieht,
und solange ein Mensch zu fixieren sucht,
was im Licht mit den Dingen geschieht.
V
läßlich
Knabberwix
Geleit-Worte
Worte rauschen durch die Rüb',
manches froh, manches trüb.
Worte fließen aus dem Stift,
manches fehlt, manches trifft.
Worte staun sich auf dem Blatt,
manches stark, manches matt.
Worte sammeln sich im Buch,
manches dumm, manches klug.
Worte strömen in die Welt,
manches steigt, manches fällt.
Worte, die ich niederschrieb:
Seid so gut, habt alle lieb.
Ostfriesische Romanze
Zwei Leben werden enggeführt
Zwei Blicke werden sehr gespürt
Zwei Hirne werden sehr erregt
Zwei Herzen werden sehr bewegt
Zwei Körper werden sehr begehrt
Zwei Seelen werden sehr versehrt
Zwei Wochen lang wird sehr geflennt
Dann hat man sich in Leer getrennt.
Prognose
Du bist jung
Du bist nett
Du bist hemmungslos kokett
Du wirst alt
Du wirst fett
Du bleibst hemmungslos kokett.
Klage
Ein Uhr und noch nichts geschafft
Zwei Uhr und noch nichts gerafft
Drei Uhr und noch nichts gemacht
Vier Uhr und noch nichts gedacht
Fünf Uhr und noch nichts getan -
Und um sechs fängt doch schon das Trinken an!
Verständlicher Wunsch
Der Wunsch, sich schon um sechs Uhr zu besaufen,
ist sehr verständlich, wenn die Dinge laufen,
wie sie nun einmal laufen, nämlich schlecht:
Da kommt ein Rausch um sechs Uhr grade recht.
Bis sechs Uhr sollte man sich schon bequemen,
die Welt, wie sie nun einmal ist, zu nehmen.
Und wie die nun mal ist, hat jeder recht,
der ihr bescheinigt: Sie ist ziemlich schlecht.
Ab sechs Uhr freilich darf der Mensch erwarten,
daß sie nicht länger wüst ist, sondern Garten.
Und wird auch manchem, der sie wässert, schlecht:
Ihm gibt doch alles, was sie bessert, recht.
Herr mit grauen Schläfen
Jetzt bin ich schon in dem Alter, da ich
der Kellnerin dafür gut bin, daß sie
meiner Bestellung »Noch eine Grappa!«
nicht mit der Frage »Wirklich?« begegnet.
Merkvers
Heute, morgen, übermorgen
sollst du's deiner Frau besorgen.
Danach aber darfst du ruhn
oder tausend Schritte tun
oder dir ein Bier gestatten
oder deine Frau begatten.
Als er zwei Riesenschnauzer betrachtete
Allein, daß sie auf vier Beinen laufen,
ist noch kein Grund, sie »Tiere« zu taufen.
Doch steht dahin, ob wir sie »Menschen« riefen,
wenn sie statt dessen auf zwei Beinen liefen.
Der frohe Vogel
Das Vöglein, das die Luft durchschifft,
ist froh, daß es kein Schiffchen trifft.
Denn träfe es ein Schiffchen,
wüßt' es: Ich bin ein Fischchen.
Vom Fuchs und dem Eichelhäher
»Nur die Nähe bringt uns näher«,
sprach der Fuchs zum Eichelhäher.
»Nichts kann edle Herzen trennen,
die sich aus der Nähe kennen!«
Und hat ihn beim Schopf genommen -
näher kann man
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