Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
esel
enzensbergers exeget flennt
enzensberger: hehehe
VI
beweglich
Der ICE passiert Günzburg
Wieder an Günzburg vorbei.
Wie oft schon Günzburg gesehen,
das turmreiche, aber der Zug
blieb niemals in Günzburg stehen.
Freilich:
Hätt' er das einmal getan -
wär' ich denn ausgestiegen?
Daß ich von Günzburg nichts weiß,
kann nicht am Fahrplan liegen.
Denn:
Furcht hält den Menschen zurück,
sich dem, was schön scheint, zu nahen.
Jedermann weiß darum.
Viele, die Günzburg sahen -
Aber:
Keiner, der Günzburg betrat.
Keiner, der Günzburg durchschritten.
Keiner, der, mittags entflammt,
nächtens um Günzburg gelitten.
Denn:
Daß uns etwas ergreift,
meint auch, daß wir es nicht fassen.
Was den Schluß nahelegt,
Günzburg links liegen zu lassen.
Und nicht nur Günzburg.
Freundinnen im Speisewagen
Karlsruhe – Kehl, 27 . 10 . 1995
Zwei Äuglein auf der Fahrt nach Kehl,
der Rest des Gesichts von einer Schulter verdeckt.
Die Äuglein sind braun und geheimnislos,
doch wer weiß, was alles hinter der Schulter steckt?
Beziehungsweise auf der Schulter sitzt.
Ein Kopf natürlich. Doch der zeigt sich von hinten
und ist voller Haare. Das läßt darauf schließen,
daß sich vorne zwei weitere Äuglein befinden.
Was Äuglein! Nein Kohlen! Nicht Kohlen! Demanten!
Demanten? Nein Sterne! Nein Sonnen! Nein Licht!
Wie schön doch zwei Äuglein sind, die wir nicht sehen!
Nur sehen die mich leider ebenfalls nicht.
Er beobachtet ein Paar auf der
Fahrt Nürnberg – Regensburg
In Nürnberg ging's auf Reisen,
doch erst nach langem Warten.
Die zwei warn am Vereisen,
als sie den Zug bestiegen.
Bis Neumarkt war noch Schreien,
danach begann Verstummen.
Dem lärmenden Entzweien
folgt zwangsläufig Versteinern.
In Parsberg dann die Haufen
von Schnee rund um die Masten.
Unmöglich, wegzulaufen,
undenkbar, fortzufahren.
Kurz hinter Beratzhausen
ein Blick von hoher Brücke.
Da sahen sie mit Grausen
sich drunt im Wasser treiben.
In Regensburg, da stiegen
Versehrte aus dem Wagen.
Er sprach nicht mehr von Siegen.
Sie streckte ihre Waffen.
Ich denk an ihr Verschwinden
und blicke in das Dunkel.
Ob die sich noch mal finden?
Ich würde es gern glauben.
Der ICE verlässt Frankfurt/Main
um 14 Uhr 30
Wenn man es nicht schon wär,
man könnte irre werden
an unsrer Führungsschicht:
Wie die sich aufführt!
Sieh jene Führungskraft:
Kaum in den Schnellzugsessel
der ersten Klasse gefallen,
wirkt sie entkräftet.
Hinstreckt sie Tröster Schlaf.
Kraftlos seufzt sie im Gleichtakt
zum Heben und Senken der eben noch
so entflammten Brust.
Entflammt fürs Bewährte und Neue,
fürs Machbare und Visionäre,
fürs Schöne, Gute und Bare -
muß das schlauchen!
Jedes Gesellschaftssystem
ruht auf tragenden Stützen.
Was aber taugen Stützen,
die selber ruhn wolln?
Setzt sich der Zug in Bewegung
schnarchen im Großraumwagen
lauter gefällte Säulen -
oder knistert's schon im Gebälk?
Duisburg Hbf
Rot aus dem Grau
kommt ein Lärm
taucht ein Licht
ist schon vorbei
und verschwindet im Grau:
Wie traurig hier alles.
Grau unterm Gleis
sitzt ein Tier
springt die Maus
quer übern Schotter
und flitzt in das Grau:
Wie traulich hier alles.
Grau aus dem Grau
schlurft ein Mann
schnippt sein Stock
Kippe für Kippe vom
Bahnsteig aufs Gleis:
Wie schaurig hier alles.
FRANKFURT/MAIN – ZÜRICH
Frankfurt/Main – Zürich
5. 5 . 95 , im Gegenlicht
Schön streckt das Land sich
Und geht in Terrassen
Über in Berge
Ausdauernd geschwungen und sehr grün gestellt
Vor den wölbenden Himmel.
Feldkreuz Kirchlein Ginster
Alles scheidet das Licht
Und es verbindet
Alles.
Viel. Viel zuviel.
Es reihn sich die Bilder
So nahtlos. Sie reichen
Sehr tief und gehen
Nicht aus längs des Bahndamms.
Indes
Wie den Schatten der Pappel
Hochhält der Maschendrahtzaun
Erhält das Bild sich
Im Gitter der Worte.
Aber schon der Fasan, aufsteigend
Und der Kiebitze schaukelnder Flug
Entziehn sich
Jeglicher Feststellung.
Sinnreich gebunden der
Treibende Rebstock
Festliche Lichter über
Wollnem Geleuchte.
Wie langsam das Schaf
Sich löst aus dem Schatten des Stalles
Um hinzugehn auf
Die athmende Au
So scheint auch kein Jubel
Im Reiher. Aber
Was weiß vom Jubel
Des Schafes, des Reihers der Mensch
Geschieden von ihnen auf immer
Und eilig. Er weiß ja nicht einmal
Etwas vom Zögern des Schafs und nichts
Von der Ruhe des Reihers.
So nun
Die Sonne im Auge
Glitzert
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