Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
F. Kafka
Das Leben ist ein Fenster,
in dem du kurz erscheinst.
Mit deinem Auftritt öffnet sich
das Fenster jenen Augenblick,
der deiner Rolle zugedacht,
dann wird es wieder zugemacht,
wie du auch fluchst und greinst:
Dein Leben ist ein Fenster,
in dem du kurz erscheinst.
Auf deinen Auftritt wartet hier
kein Inspizient, kein Regisseur,
kein Stichwort, kein Szenarium,
kein Text, auch ist das Publikum
viel kleiner, als du meinst:
Dein Leben ist dies Fenster,
in dem du kurz erscheinst.
Zu deinem Abtritt nur so viel:
Wenn mal das Rampenlicht erlischt,
dann ist der Vorgang hausgemacht,
der Pförtner hat es ausgemacht,
nach Plan, nicht nach Verdienst:
Dein Leben war dies Fenster,
in dem du kurz erschienst.
Ross und Reiter
Ich fühl mich meinem Leben so verbunden
wie einem Stein, der mir in freiem Falle
vorausstürzt und den Weg weist: Da geht's weiter.
Ich und der Stein, wir sind uns sehr verbunden.
Solang wir fallen, sind wir Weggefährten,
ein eingespieltes Paar wie Roß und Reiter.
Der Stein ist dergestalt mit mir verbunden,
daß uns ein Schicksal eint, das man auch Strick nennt.
Wenn ich von dem nicht loskomm, das wird heiter.
Doch was da fällt, bleibt bis zum Schluß verbunden.
Stumm stürzt das Roß. Verstummend folgt der Reiter.
Erst als er merkt: Ich fall ja gar nicht mehr – da schreit er.
Es, es, es und es
Es ist nicht schön, wenn man begreift:
Du bist nur gealtert, du bist nicht gereift.
Es tut nicht gut, wenn man bemerkt:
Die Zeit hat nur deine Schwächen verstärkt.
Es führt nicht weit, wenn man erkennt:
Was du auch anfängst, es ist der Anfang vom End.
Es baut etwas auf, wenn man bedenkt:
Mit dem Tod bekamst du das Leben geschenkt.
Ein Glück
Wie hilflos der Spatz auf der Straße liegt.
Er hat soeben was abgekriegt.
Da hebt das den Kopf, was erledigt schien.
Könnten Spatzen schreien, der hätte geschrien.
Der hätte gebettelt: Erlöse mich.
Der Erlöser wäre im Zweifelsfall ich.
Ist sonst niemand da, die Straße ist leer,
der Wind weht leicht, und der Spatz macht's mir schwer.
Wen leiden zu sehn, ist nicht angenehm.
Wenn wer sterben will, ist das sein Problem.
So red ich mir zu und geh rascher voran.
Ein Glück, daß ein Spatz nicht schreien kann.
Litanei vom Schmerz
Profunder Schmerz
Wir wickeln und wickeln
profunden Schmerz in lindernde Tücher:
Ein Tuch nennt sich Gift
wir wickeln und wickeln
wir dämpfen den Schmerz
und wickeln, wir wickeln
Ein Tuch nennt sich Geist
wir wickeln und wickeln
wir deuten den Schmerz
wir wickeln und wickeln
Ein Tuch nennt sich Lust
wir wickeln und wickeln
wir würzen den Schmerz
und wickeln und wickeln
Ein Tuch nennt sich Form
wir wickeln und wickeln
wir binden den Schmerz
und wickeln, wir wickeln
Ein Tuch nennt sich Sex
wir wickeln und wickeln
wir schärfen den Schmerz
wir wickeln und wickeln
Ein Tuch nennt sich Crime
wir wickeln und wickeln
wir feiern den Schmerz
und wickeln und wickeln
Ein Tuch nennt sich Sport
wir wickeln und wickeln
wir fordern den Schmerz
und wickeln, wir wickeln
Ein Tuch nennt sich Geld
wir wickeln und wickeln
wir süßen den Schmerz
wir wickeln und wickeln
Ein Tuch nennt sich Tat
wir wickeln und wickeln
wir bannen den Schmerz
und wickeln und wickeln
Ein Tuch nennt sich Kunst
wir wickeln und wickeln
wir schönen den Schmerz
und wickeln, wir wickeln
Ein Tuch nennt sich Zeit
wir wickeln und wickeln
wir löschen den Schmerz
wir wickeln und wickeln
Ein Tuch nennt sich Ich
wir wickeln und wickeln
wir horten den Schmerz
und wickeln und wickeln
Ein Tuch nennt sich Du
wir wickeln und wickeln
wir teilen den Schmerz
und wickeln, wir wickeln
Ein Tuch nennt sich Glück
wir wickeln und wickeln
wir leugnen den Schmerz
wir wickeln und wickeln
Ein Tuch nennt sich Ruhm
wir wickeln und wickeln
wir adeln den Schmerz
und wickeln und wickeln
Ein Tuch nennt sich Staat
wir wickeln und wickeln
wir rühmen den Schmerz
und wickeln, wir wickeln
Ein Tuch nennt sich Nichts
wir wickeln und wickeln
wir steigern den Schmerz
wir wickeln und wickeln
Ein Tuch nennt sich Gott
wir wickeln und wickeln
wir krönen den Schmerz
und wickeln und wickeln
Ein Tuch nennt sich Tod.
Enttarnt
Durch einen Fehler im Weltenplan
lockerte sich mein Schneidezahn.
Da schoß es mir eiskalt durch den Sinn:
Wie, wenn ich nicht unsterblich bin?
Da schien mir urplötzlich sonnenklar,
daß ich ein endliches Wesen war.
Da war ich schlagartig gewarnt:
So habe ich
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