Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Titel: Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gernhardt
Vom Netzwerk:
Treppe
    Mann an der Treppe!
    Ich kenne dein Zögern.
    »Gibt's hier keinen Fahrstuhl?
    War nur eine Frage…«
    Dann setzt du den Fuß
    auf die erste Stufe
    und wünschst dir, es wär schon die letzte.
    Vorgeschichte: Stummer Infarkt
    Sind Sie der Herr Gernhardt?
    Ich bringe die Rechnung
    für knapp sechzig Jahre
    gut Essen, schön Trinken,
    stramm Schaffen, träg Sitzen,
    hoch Fliegen, tief Sumpfen – :
    Bitte hier, links oben, quittieren.
    15.5.96  Routine-EKG
    Herunter vom Schragen
    schau ich auf die Linien.
    Die Geraden und Zacken
    fällen mein Urteil,
    das ich arglos mustre,
    doch da kommt schon mein Dolmetsch:
    »Einen schönen guten Morgen, Herr Doktor!«
    Beredter Körper
    Manchmal, da sind sie
    ja doch in der Lage
    Klartext zu reden,
    diese Körper.
    Meinen zum Beispiel
    hat wortwörtlich umgehaun,
    was der Dolmetsch ihm aus dem EKG las.
    Erinnerung an ein Unwohlsein in Montaio
    Auf derselben Terrasse,
    auf der ich die letzte
    Zigarette ausgetreten hatte,
    erreichte mich der Herzinfarkt.
    Mit zehn Jahren Verspätung!
    Ein weiterer Beleg
    für die Unzuverlässigkeit der italienischen Pestzustellung.
    Wandschmuck im Zimmer C 513 des Krankenhauses Sachsenhausen, F/M
    Hie Boote und Dünen
    und Brandung und Wolken.
    Hie Blumen und Blätter
    und Gräser und Stauden.
    Hie Grausen, hie Folter.
    Hie Spott, hie – »Verstehe!
    Der Herr läge gerne im Städel!«
    Vorzeichen
    Ich lag kaum im Bett,
    und der Professor
    erklärte mir gerade
    den Ernst der Lage,
    da kreuzte im Fenster
    ein Reiher die Kirchen
    und Banken, und ich schöpfte Hoffnung.
    Körper und Geist
    Trau einer dem Körper!
    Hat der nicht tagtäglich
    sein Fläschchen gefordert
    samt Kaffee und Cognac
    und lehnt jetzt entgeistert
    jegliche Schuld ab:
    »Das war doch der da, der Geist!«
    Er hört dem beleibten Arzt zu
    Erzähl vom Verschleißen
    Erzähl vom Verkalken
    Erzähl vom Verengen
    Erzähl vom Verschließen
    Erzähl, was du willst,
    nur erzähl du mir bitte
    bitte nichts vom Verzichten.
    17.5.  Er wartet auf den Herzkatheter
    Ruhig Blut! Greif zur ›Geo‹!
    Schalt ab und bewundre
    auf Bildern der Maya,
    wie Priester den Opfern
    bei lebendigem Leibe
    das Herz aus – gerechnet
    jetzt wird mein Name aufgerufen!
    Er betrachtet sein Herz via Katheter
    Das ist mal was Neues!
    Mein Herz auf dem Bildschirm!
    Schwarz-weiß, doch der Arzt
    sieht auch so schon genug:
    »Da sieht's nicht gut aus
    und da nicht und da nicht -
    was ist? Ist Ihnen nicht gut?«
    Glück gehabt
    Gar nicht so einfach,
    verarztet zu werden!
    Der Weg unters Messer
    führt über die »hot list«.
    Dein Glück, daß du drauf kamst!
    Bei besseren Werten
    säh's schlecht für dich aus, mein Guter!
    Er wartet auf einen Termin in der Kerckhoff-
Klinik, Bad Nauheim
    Bad Nauheim? Da war ich.
    Viel Jugendstil, glaub ich.
    Im Hallenbad bin ich
    geschwommen. Nun soll ich
    erneut hin. Verbindlich
    erklär ich: »Natürlich
    geh ich, wohin mich mein Herz trägt!«
    Er preist die Vorsilbe »prä«
    Präzises Präfix!
    »Prä« präludiert
    einem »operativ«, das
    so lange präsent ist,
    bis es im Präsens
    des OP dich ereilt:
    Als Prämisse für den postoperativen Zustand.
    Beschwichtigung zum ersten
    »Du, mittlerweile
    ist das doch Routine!
    Die legen dir Bypässe,
    wie du es brauchst!
    Der Walter hat sieben
    und raucht schon wieder -«
    Richtig Pech, daß ich Nichtraucher bin!
    Beschwichtigung zum zweiten
    »So ein Bypass, du,
    ist was ganz Normales!
    Der Manfred hat einen
    und der Hans-Werner,
    der Max und der Günter,
    der Paul und« – Kein Wort mehr!
    Man schämt sich ja regelrecht ohne!
    Beschwichtigung zum dritten
    »Fünf Tage drauf
    saß X schon im Flieger.«
    »Heute ist Y
    fit wie ein Turnschuh.«
    »Seither hat Z ständig -«
    »Was?« »Ach, vergiß es!«
    Das muß ich mir merken!
    Kopf hoch
    Was soll deine Sorge,
    du müßtest zu früh gehn
    und könntest das Ende
    des Films verpassen?
    Du bist doch der Star!
    Mit deinem Abtritt
    endet in jedem Fall dein Film.
    Er studiert die »Herzkatheter-
Sachkostenaufstellung«
    »1 Rechtscoronarer
    Katheter« – klingt schlüssig.
    »1 Linkscoronarer
    Katheter« – desgleichen.
    Aber »1 Pigtail-
    Katheter« – was soll das?
    Wer macht hier eigentlich die Witze?
    Er beschwichtigt sich
    Nimm's nicht persönlich!
    Es trifft gern Personen
    wie dich: Männlich,
    zwischen fünfzig und sechzig,
    wichtig und übergewichtig -
    was wär an so Wichten
    denn Original zu nennen?
    22.5.  Er feiert ein Jubiläum
    Eine Woche ohne

Weitere Kostenlose Bücher