Gesammelte Wanderabenteuer
haben.
Wandermülleimer – typisch
Ich hatte fast schon 30 Kilometer hinter mir und war froh, dass der sanfte Abstieg ins Tal begann. Der Weg folgte dem Lauf der Eder, die sich in extremen Windungen durchs Tal mäandert. Dieses Tal war keine Schlucht, sondern ein weites, sanft geschwungenes Tal. Den Talgrund schätzte ich auf 200 Meter Breite. Zwischen einer Art Steppengras wuchsen ein paar vereinzelt herumstehende, trostlose Birken. So stelle ich mir die |85| russische Tundra vor. Die Aussicht und das Wandererlebnis waren genauso aufregend wie eine sibirische Steppendurchquerung. Fast war ich im Gehen eingeschlafen und hatte beinahe die Abzweigung des Weges Richtung Lützel verpasst. Die Eder verabschiedete sich hier in Richtung Weser. Auf Wiedersehen Eder, hallo Lützel!
Ein ungelenker, blasser 13-Jähriger mit Limp-Biskit-T-Shirt und geschultertem Kickboard kam mir entgegen. Überaus freundlich begrüßte er mich und wünschte mir einen schönen Tag. Respekt! Die Legende vom maulfaulen und sturen Sauerländer muss umgeschrieben werden, wenn einheimische Pubertierende jetzt einsame Wanderer grüßen.
Und schon war ich im Ortskern von Lützel. Lützel ist die mittelhochdeutsche Bezeichnung für klein. Der größte deutsche Dichter, Robert Gernhardt, schrieb in seiner Frühphase manchmal unter dem Pseudonym Jeman Lützel. Dabei ist Lützel gar nicht so klein, ist aber auf jeden Fall entschieden hässlicher, als es der knuffige Name vermuten lässt. Der Ort liegt auf beiden Seiten einer viel befahrenen Bundesstraße, und die herausragenden Gebäude sind lang gestreckte Industriehallen. Also schnell weg hier und den Berg hinauf, auch wenn Lützel ursprünglich mein Ziel gewesen war. Ich spürte noch genug Kraft für weitere Schritte.
Der Rothaarsteig führte mich mit einer ziemlich brutalen Steigung einen Feldweg herauf. Schon von weitem erkannte ich eine gebückte Gestalt vor mir, die sich im Schneckentempo bergaufwärts bewegte. Beim Näherkommen konnte ich einen Schlauch erkennen, der vom Rücken des Wanderes zu seinem Mund führte. Der |86| Mann sah sehr hinfällig aus. Ich überlegte, ob es in der Nähe vielleicht eine Klinik gab und der Mann sich gerade von seinen Apparaten losgerissen hatte. Als ich überholen wollte, sprach er mich an. Der Wanderkollege war mindestens 85 Jahre alt. Aus seinem Rucksack ragte eine Trinkflasche, von der er durch einen Schlauch trank, während er mit mir sprach.
Er erzählte, er würde seit 40 Jahren jeden Tag zwischen 20 und 35 Kilometer durchs Rothaargebirge wandern. Jeden Tag! Und bei jedem Wetter!
Im Gegensatz zu meinen Wanderfreunden am Morgen, die es lieber sauber und eingefasst hatten, war der Wander-Greis ein ausgesprochener Grüner.
Er erklärte mir, wie er in den letzten Jahren den Klimawandel und das Waldsterben erlebt hat. Da er sozusagen auf Wanderschaft lebt, bekam er natürlich Temperaturunterschiede und Einschnitte in die Vegetation genau und direkt mit. Seine Ausführungen waren aber nicht nur emotional gefärbt, sondern auch durch großes ökologisches Fachwissen unterfüttert.
Er versprach mir, dass ich am Ende des steilen Feldwegs eine fantastische Aussicht auf die gesamten umliegenden Bergzüge hätte. Und so war es auch. Noch mehr überraschte mich, dass sich auf der Höhe des Gillerbergs ein kleines Wintersportgebiet mit rostiger Sprungschanze und Skilift befindet. Ohne Schnee war hier nichts los. Im weiteren Verlauf durchquert der Rothaarsteig noch die sauerländischen Top-Wintersportgebiete Schmallenberg und Winterberg. Was bedeutet, dass im Winter auf ungefähr 15 Kilometern mit nervigen Langläufern zu rechnen ist. Am schlimmsten |87| sind die vielen sturzbetrunkenen Holländer, die unvermittelt auf ihren Skiern aus dem Wald brettern. Die Berge des Sauerlands sind ja die Alpen der Holländer, und dass die sich nicht jeden Tag im Winter in Horden gegenseitig beim Skifahren überfahren, grenzt an ein Wunder.
Das Skigebiet oberhalb von Lützel ist im Unterschied zum Winterberger Ski-Eldorado kompakt, klein und stört beim Durchwandern nicht. Drei Kilometer hinter dem Gillerberg erreichte ich die Ginsburg. Genauer gesagt verläuft der Wanderweg knapp unterhalb dieser Burg. Mir war es zu anstrengend, die 200 Meter zur Burg hochzulaufen, die vom Wanderweg aus nicht sonderlich spektakulär aussah.
Ich hatte genug für diesen Tag und ging hinunter zur Bahnstation Hilchenbach-Vormwald. Ich spürte meine Füße und die schmerzenden Blasen.
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