Gesammelte Wanderabenteuer
in unterschiedlichen Felsen verewigt. Wir konnten Jahreszahlen wie 1896, 1929 und 1943 deutlich erkennen und dazu die jeweiligen Namen. Stein-Graffitis für Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte. Auf mittlerer Höhe zwischen Elbe und Felsengrat verlief ein sandiger Weg, der direkt nach Schmilka, unserem Zielort, führte. In der Sächsischen Schweiz sind die Wege so angelegt, dass an vielen Kreuzungspunkten die Möglichkeit besteht, sich eine individuelle Route zusammenzustellen. Aber der sandige Weg wäre die Warmduscher-Variante gewesen. Uns lockte die Schrammsteinaussicht und der damit verbundene Aufstieg.
|129| Extrem-Kletterer, Alpinisten und Hochgebirgsspezialisten werden jetzt vermutlich ein leichtes Gähnen nicht unterdrücken können. »Aufstieg mit Treppen und Leitern? Lächerlich!« – höre ich diese Berggemsen stöhnen. »Wir machen das, nur mit einem Seil gesichert oder sogar mit purer Fingerkraft.« Alles richtig, aber für einen Mittelgebirgs-Wandersportler wie mich war das hier schon ein richtiges Abenteuer.
Es ging kreuz und quer durch schmale Felsspalten aufwärts. Mal gab es Eisentreppen, mal Eisenleitern, die einem auf dem Weg nach oben halfen. Die Eisenleitern erinnerten an die Hotel-Notstiegen, die als Fluchtmöglichkeit im Ernstfall dienen. Oft gab aber auch nur ein einfacher Handlauf aus Eisen Halt. »Wildschützensteig« nannte sich dieses Stück und war so steil, dass es verboten war, ihn als Abstieg zu nutzen: ein Einbahnstraßen-Wanderweg. Und hier erschloss sich mir auch die wahre Bedeutung des Begriffs »Steig« – hier wurde gestiegen. Er hatte den Steig im Namen verdient, anders als seine aufgeplusterten Kollegen in Thüringen oder im Rothaargebirge.
Nach einer halben Stunde erreichten wir den Gipfel. Heureka, was für eine Aussicht! Tief unter uns glitzerte das schmale Band der Elbe. Die vorbeibummelnden Eurocitys Richtung Prag sahen aus wie Modelleisenbahnen der Minispur Z. Und in allen Himmelsrichtungen gab es bizarre Felsen zu sehen. Mein Freund kletterte auf eine Brüstung und machte den Victor di Caprio mit »I’m the king of the Elbsandsteingebirge«.
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I’m the king of the Elbsandsteingebirge!
Im Dresdener Hauptbahnhof hatten wir im »Orient-Shop« alles für ein Gipfelpicknick eingekauft: drei kleine Fladenbrote, zwei superscharfe türkische Knoblauch-Salami-Würste, ein Schälchen eingelegte Oliven, ein Schälchen Peperoni mit Schafskäse gefüllt und eine Flasche Chianti. Keine Pappteller, keine Pappbecher. Wozu auch, wir hatten doch immer noch die Klopapierrolle aus dem REWE in Weimar.
Im Hotel hatten wir uns einen Korkenzieher geliehen. Wieso Korkenzieher? Hat denn der Wander-Andrack nicht immer ein Schweizer Messer dabei? Nein.
Erster Grund: Die Dinger sind hammerteuer, und ich habe beide Exemplare, die ich in meinem Leben besessen habe, innerhalb weniger Wochen verschlampt.
Zweiter Grund: Schweizer Messer sind etwas für Jungs, die später Physik studieren und bunte Pullover mit Muster anhaben. Kurz: Schweizer Messer sind uncool.
|131| Zwei bayrische Männer, die sich in unsere Nähe gesetzt hatten, blickten jedenfalls neidisch auf unser Festmahl. »Das ist Kultur«, nickten sie anerkennend.
Nach der Schrammsteinaussicht ging das Gekraxel weiter über einen Grat, der diesen Namen wahrhaft verdient hatte. Man könnte es so beschreiben: Der Kammweg des Rothaarsteigs führt über den breiten Rücken eines Bergs, der wie ein schlafender Riesenwal in der Landschaft liegt. Der Gratweg über die Schrammsteine gleicht dem zackigen Kamm eines hyperaktiven, Feuer spuckenden Drachens.
Kein Wunder, dass Karl May fast nie die Orte, über die er schrieb, bereist hat. Er wohnte in Radebeul nahe Dresden und konnte sich um die Ecke von der Sächsischen Schweiz für das wilde Kurdistan und den Silbersee inspirieren lassen.
Der Weg mündete schließlich in einem dichten Wald. An einer Kreuzung – ähnlich wie in der Schweiz waren die Kreuzungen hier mit Zeitangaben ausgeschildert – hieß es, dass es noch eine Stunde bis zum Großen Winterberg wäre und die Gaststätte oben bis mindestens 17:00 Uhr geöffnet hätte. Was hieß »mindestens« konkret? Wir hatten 16:23 Uhr, und Victor zog das Tempo an. Vorher waren wir eher gemütlich geschlendert, nun wurde ordentlich ausgeschritten. Victor ging drei Schritte vor, ich folgte ihm, bereit, jede Attacke zu kontern. Ein Blick zurück genügte, um uns zu vergewissern, dass wir das Hauptfeld längst
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