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Gesammelte Wanderabenteuer

Titel: Gesammelte Wanderabenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuel Andrack
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uns vorher gewarnt, dass viele Eingeborene hier den zwölf |353| Tausendern mythische Kräfte zuschrieben und es schwierig werden würde, zuverlässiges Personal zu finden. Trotz des erhöhten Risikos gingen wir auf eigene Faust los.
    Mist, wieder keine Sherpas am Watzlsteg.
    50 Meter vom Bahnhof entfernt, stießen wir auf den Fernwanderweg E6, der von der Ostsee bis zur Adria führt.
    Die ersten beiden Stunden liefen problemlos, und wir erreichten unseren ersten Tausender, den Mittagsstein, auf 1.034 Metern. Kurz zuvor waren wir schon auf dem Kreuzfelsen gewesen, dessen Gipfel 999 Meter hoch war. (Sollte man dort nicht noch mal nachmessen, ob der Kreuzfelsen nicht doch einen Meter höher ist? Wahrscheinlich will man das aber gar nicht, sonst müsste man alle gusseisernen Höhenprofile, die am Wegesrand die zwölf Tausender zeigen, austauschen, und das wäre natürlich sehr teuer.)
    Am Mittagsstein rasteten wir an einem Glockenturm, der auch als Kulisse in »Spiel mir das Lied vom Tod« hätte dienen können. Von vier hohen Steinsäulen getragen, hing |354| unter einem Dach eine große Glocke. Der unglaubliche Ausblick zusammen mit dem stolzen Gefühl, die 600 Meter Höhenunterschied zu Fuß überwunden zu haben, und nicht mit Seilbahn oder Lift, sorgte für die erste Euphorie dieser Tour. Nach einer Viertelstunde brachen wir auf und machten 30 Sekunden später wieder Rast. Hier oben gab es ein Gasthaus – die »Kötztinger Hütte« –, und wir beschlossen, erst einmal zwei Halbe zu trinken. Der Kellner sah aus wie Robert de Niro und war auch so cool, als käme er direkt aus einem Scorsese-Film. Als wir bezahlten, schaute Robert de Niro mit einem riesigen Fernglas zum nächsten Berggipfel. Was er denn dort suche, fragte ich ihn. »Na, Bären«, antwortete er, »und Hirsche.« Mit bloßem Auge konnte man ein paar bunte Jacken erkennen. Als wir wieder zehn Minuten gegangen waren, kamen uns einige Frauen entgegen. Ich vermute, das waren die Bären und Hirsche gewesen.
    Alter Wanderscherz: Warum ist diese Kiefer mit einem weißen Ring markiert? Damit man zwischen Oberkiefer und Unterkiefer unterscheiden kann.
    Inzwischen hatte es einen Wetterumschwung gegeben. Graue Nebelschwaden stiegen aus dem Tal empor, und es regnete stark. Wir kamen zu den Rauchröhren, einem Versteck der Landbevölkerung im 30-jährigen Krieg. Statt den Pfad direkt über die Felsen zu wählen, was eigentlich Victors und meinem  |355| Draufgängernaturell entsprochen hätte, entschieden wir uns für die leichtere Variante. Vom Großen Riedelstein (1.132 Meter) ging es auf 834 Meter hinunter zum Berggasthof Eck. Zwei Skipisten führen direkt auf den Berghof zu, dazwischen fällt der Weg steil bergab. Ich konnte Victor auf dieser Strecke nicht mehr folgen, bei jedem Schritt hatte ich Schmerzen in den Knien.
    Ich versuchte, in kleinen Kehren zu gehen, lieh mir von Victor Stöcke aus, aber nichts half. Entnervt kam ich fünf Minuten nach meinem Freund im Gasthof an.
     
    In der Nacht wurde ich immer wieder von einem lauten Tropfen geweckt. Ich dachte, ich hätte den Wasserhahn nicht richtig zugedreht, war aber zu müde, um aufzustehen. Außerdem hörte das Tropfen meist nach wenigen Minuten wieder auf. Am nächsten Morgen entdeckte ich auf dem Fensterbrett eine große Pfütze, und Wasser war den Heizkörper entlang auf den Boden gelaufen. Es hatte in der Nacht durch das geschlossene Fenster geregnet, und der Blick nach draußen stürzte mich noch tiefer in die Depression. So etwas hatte ich zuletzt bei der Fernsehberichterstattung über Unwetter in der Karibik gesehen. Eine Regenwand im Nebel, kaum Licht, starker Wind. Die Tausendertour würden wir wohl nicht fortsetzen können. Entsprechend schlechtgelaunt kam ich zum Frühstück.
    Neben Victor und mir saßen zwei Männer, etwa in unserem Alter. Ich fragte sie, ob sie auch zum Wandern hier wären. Klar, antworteten sie. »Auch bei dem Wetter?« Wir erfuhren, dass es auch am Vortag (als wir uns noch bei der Anreise befanden) bis zehn Uhr schlimm geregnet hätte, dann wäre es besser geworden. Könnte am heutigen Tag auch so sein, dachte ich mir und klammerte mich an diesen letzten Strohhalm Hoffnung. Wir beschlossen, gemeinsam |356| mit Stefan und Norbert loszumarschieren. Kurz nach neun Uhr packten wir unsere Sachen und liefen in den nur noch nieselnden Regen.
     
    Unser Aufstieg glich der Wanderung der Lachse. Der Weg war zu einem Bach geworden, zwischen den Steinen floss uns das Wasser entgegen.

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