Gesammelte Wanderabenteuer
Später lasen wir in der Zeitung, dass es in Bayern das schlimmste Hochwasser seit 50 Jahren gegeben hatte. Und wir waren mitten durch die Ursache für die übervollen Flüsse gewandert.
Als wir eine knappe Stunde hinter Eck an unserem ersten Tausender dieses Tages ankamen, stürzte Victor zum Gipfelkreuz. Dort fand er in einem Kasten ein wasserdicht verpacktes Gipfelbuch. »Sensationell, das ist erst gestern hier deponiert worden, wir sind die Ersten, die hineinschreiben dürfen!« Gipfelbücher sind eine Art Poesiealbum der Berge. Victor kniete sich hin und begann, die ersten Zeilen in das nagelneue Buch zu schreiben. Ich weiß nicht, was er schrieb, denn ich folgte derweil Stefan. Der hatte schon die ganze Zeit auf ein GPS-Gerät gestarrt. Nur zur Erinnerung: Die GPS-Technik haben wir Ronald Reagan und seinem verunglückten »Star Wars«-Programm zu verdanken. Das Vorhaben, aus dem Weltraum heraus feindliche Raketen abzuschießen, wurde nicht zu Ende geführt, aber die ersten Satelliten verblieben im Weltraum. Seitdem gibt es Navigationssysteme nicht nur für Autos, sondern auch für Wanderer. Mir hatte sich nie wirklich erschlossen, warum es sinnvoll sein könnte, sich ein GPS-Gerät anzuschaffen. Es ist teuer (das Gerät von Stefan kostete inklusive Deutschlandkarte 600 Euro), und die Wege, die ich am liebsten gehe, sind (meistens) ziemlich gut ausgeschildert. Stefan benötigte das Gerät allerdings auch nicht als Wanderhilfe, sondern zum Aufspüren von Verstecken. Stefan war Geo-Cacher. |357| Er hatte am heimischen Computer die Koordinaten der Verstecke (Englisch: caches) entlang der zwölf Tausender eingegeben. Weltweit existieren 300.000 Caches, allein in deutschen Wäldern und Städten gibt es 14.000. Das Spiel Geo-Caching muss man sich wie eine Schnitzeljagd für große Jungs vorstellen.
Stefan und Norbert, die zwei Geo-Cacher aus dem Schwarzwald
Auf seinem GPS-Gerät konnte Stefan die Höhenmeter und die Entfernung zum Cache ablesen. Das GPS fungierte nun als Heiß-Kalt-Maschine wie beim Ostereiersuchen. Stefan starrte auf sein Gerät: »Es kann nicht mehr weit sein, neun Meter, acht Meter, zehn Meter, Mist, es muss doch in der anderen Richtung sein.« Als Stefan bis auf einen Meter an den Fundort herangekommen war, konnte er immer noch nichts entdecken. Er holte nun aus seinem Rucksack ein sogenanntes Spoilerbild. Dieses Foto hatte er daheim ausgedruckt, |358| der »Betreuer« der Zwölf-Tausender-Caches-Strecke hatte Bilder der Verstecke ins Netz gestellt. Es gab also nicht nur Verrückte (Zitat Stefan »Ich hab einen Hau«), die im Wald nach Caches suchen, es musste auch die geben, die das Zeug verstecken. Meistens, erklärte Stefan uns, macht man beides. Er suche gerne, würde aber auch selber Caches verteilen – aber nur bei ihm zu Hause. Anhand des Bildes identifizierte Stefan einen großen Stein als Versteck, krabbelte um ihn herum und zog triumphierend eine kleine Plastiktüte hervor. In der Plastiktüte war ein verschließbarer Gefrierbeutel und darin ein kleines blaues Plastikkästchen. Stefan entnahm ein Logbuch und trug Fundzeit und »Artigste Grüße« ein. Danach versteckte er den Cache wieder sorgsam. »Nichts ist ärgerlicher als geklaute Caches.« Verständlich. Dann wurde noch schnell ein Foto gemacht, und weiter ging es.
Seit 2000 gibt es Geo-Caching, seit Herbst 2004 ist Stefan dabei, und so leben anscheinend Tausende Mitmenschen in einem Paralleluniversum, ziehen durch die Wälder und verstecken Kästchen und suchen und entdecken und verstecken und suchen weiter.
Es hatte aufgehört zu regnen. Der Wandergott (den gibt es, wie angeblich auch den Fußballgott, obwohl ich an dessen Existenz langsam nicht mehr glauben mag) hatte sich unser erbarmt. Diese moderne Schnitzeljagd begann mich zu interessieren. Stefan zeigte mir das Spoilerbild des nächsten Verstecks an dem Gipfel mit dem schönen Namen Waldwiesmarterl. Es war ein Baumstumpf auf dem Bild zu sehen gewesen. Am Gipfel angekommen, standen da bestimmt 20 von diesen Baumwurzeln. Während die anderen drei links des Weges suchten, erblickte ich einen kleinen Baum genau wie auf dem Foto und kurz darauf (auch ohne die Hilfe des |359| GPS) den Holzstumpf. An einer Seite lehnte ein Holzstück an der Wurzel. Das nahm ich weg, griff tief unter die Wurzel und förderte einen kleinen Plastikbeutel zutage. Außer dem Logbuch fand sich noch allerlei Krimskrams in dem blauen Kästchen. Eine Trillerpfeife, einige Murmeln und ein
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