Gesammelte Werke 1
begann der Kahle noch einmal. »Selbst wenn sie es anders wollen. Ihnen ist alles gleich, sie wohnen ja nicht einmal zu Hause. Sechsfinger steckt Tag und Nacht drüben, plündert dort und trinkt - es ist eine Schande! Sie haben’s gut, brauchen die verfluchten Türme nicht zu fürchten, denn sie kriegen keine Schmerzen. Doch was wird aus der Gemeinschaft? Das Wild zieht nach Norden. Wer anders kann es uns von dort zutreiben als die Aufklärer? Gebt sie ihm nicht! Nehmt sie lieber an die Kandare,
sie sind schon außer Rand und Band! Verüben dort Morde, entführen Soldaten und quälen sie, als wären das keine Menschen. Lasst sie nicht gehen! Sie schlagen noch ganz über die Stränge.«
»Nicht fortlassen, nicht fortlassen«, bekräftigte die Menge. »Was sollen wir ohne sie machen? Wir haben sie geboren und großgezogen, sie mit Essen und Trinken versorgt, das müssen sie doch fühlen; aber nein, sie schauen weg und tun einfach, was sie wollen.«
Der Glatzköpfige beruhigte sich endlich, sank auf seinen Platz und schlürfte gierig den kalt gewordenen Tee. Auch die anderen wurden still, saßen reglos da und waren bemüht, Maxim nicht anzusehen.
Boschku nickte verzagt. »Wie unglückselig aber auch unser Leben ist! Nirgendwoher kommt Rettung. Was haben wir nur getan, und wem?«
»Unsere Geburt war sinnlos, daran liegt’s«, sagte Haselnussstrauch. »Gedankenlos hat man uns in die Welt gesetzt, zur Unzeit.« Er hielt seine leere Tasse hoch. »Auch wir zeugen ohne Notwendigkeit. Für den Untergang. Ja, ja, für den Untergang.«
»Das Gleichgewicht«, krächzte plötzlich jemand laut. »Ich habe es Ihnen bereits gesagt, Mak. Aber sie wollten mich nicht verstehen.«
Es war nicht festzustellen, woher diese Stimme kam. Alle schwiegen, die Augen leidvoll niedergeschlagen. Nur der Vogel auf Hexenmeisters Schulter trippelte hin und her und klappte seinen gelben Schnabel auf und zu. Hexenmeister selbst bewegte sich nicht, hielt die Lider geschlossen und die trockenen schmalen Lippen zusammengepresst.
»Ich hoffe, nun begreifen Sie!« Es schien, als führe der Vogel fort. »Sie wollen dieses Gleichgewicht stören. Schön, das wäre möglich, es liegt in Ihrer Macht. Aber man fragt sich: wozu? Bittet Sie jemand darum? Sie haben richtig entschieden,
als Sie sich an die Ärmsten und Unglücklichsten wandten, an Menschen, die im Gleichgewicht der Kräfte die schwächste Position haben. Aber nicht einmal sie möchten dieses Gleichgewicht stören. Wer oder was leitet Sie also?«
Der Vogel plusterte sich auf und steckte den Kopf unter den Flügel, die Stimme aber dröhnte weiter, und nun wurde Gai bewusst, dass Hexenmeister sprach, ohne den Mund zu öffnen oder auch nur einen Muskel im Gesicht zu verziehen. Es war unheimlich, nicht nur für Gai, sondern für alle Anwesenden, sogar für den Herzogprinzen. Einzig Mak musterte Hexenmeister finster und sogar herausfordernd.
»Die Ungeduld des alarmierten Gewissens!«, deklamierte Hexenmeister. »Ihr Gewissen ist verwöhnt durch Ihre ständige Aufmerksamkeit! Es stöhnt schon beim kleinsten Mangel, und Ihr Verstand beugt sich ihm ehrfürchtig, statt es zornig in seine Schranken zu weisen. Kaum empört es sich über eine bestehende Ordnung der Dinge, sucht er gehorsam und eilfertig Wege, um diese Ordnung zu verändern. Doch die Ordnung folgt ihren eigenen Gesetzen; und diese resultieren aus den Bestrebungen riesiger Menschenmassen. Will man also die Ordnung ändern, muss man bei den Bestrebungen anfangen. Folglich haben wir auf der einen Seite die Bestrebungen der Massen, andererseits aber Ihr Gewissen, das Ihre Bestrebungen widerspiegelt. Ihr Gewissen drängt Sie, die Dinge umzuordnen - was bedeutet, die Gesetzmäßigkeiten einer Ordnung zu verletzen, die aus dem Streben der Masse entstanden sind; das aber heißt, die Bestrebungen von Millionen nach dem Bild und der Analogie Ihres eigenen Trachtens zu wandeln. Das ist lächerlich und antihistorisch. Ihr vom Gewissen umnebelter, betäubter Verstand hat seine Fähigkeit verloren, das reale Wohl der Menge von einem imaginären, durch Ihr Gewissen diktierten Wohl zu unterscheiden. Seinen Verstand jedoch muss man klar halten. Wenn Sie das nicht wollen oder nicht können - umso schlimmer für Sie! Und
nicht nur für Sie. Sie werden einwenden, in der Welt, aus der Sie kamen, könne man ohne reines Gewissen nicht leben. Dann hören Sie auf zu leben! Das wäre kein schlechter Ausweg - sowohl für Sie als auch für andere.«
Hexenmeister
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