Gesammelte Werke 1
verstummte, und alle Köpfe drehten sich zu Maxim. Gai hatte nicht recht fassen können, was diese Rede bedeutete. Wahrscheinlich war sie der Nachhall eines alten Streits, und bestimmt hielt Hexenmeister Maxim für einen klugen, aber launischen Menschen, der eher seinen Grillen folgte als der Notwendigkeit. Das kränkte. Maxim war zwar ein merkwürdiger Mensch, aber er schonte sich nie, wollte allen immer Gutes tun - nicht aus einer Laune heraus, sondern aus tiefster Überzeugung. Freilich, die vierzig Millionen, die durch die Strahlen verdummt waren, wünschten keinerlei Veränderung. Aber sie wurden an der Nase herumgeführt. Das war ungerecht.
»Ich kann Ihnen nicht zustimmen«, widersprach Maxim kalt. »Brennt das Gewissen, stellt es dadurch Aufgaben, die der Verstand zu erfüllen hat. Das Gewissen zeigt Ideale, der Verstand sucht Wege zu ihnen. Das ist ja gerade seine Aufgabe! Ohne Gewissen würde er nur für sich arbeiten, leerlaufen. Was aber den Widerspruch zwischen meinem Streben und dem der Masse angeht - es gibt ein eindeutiges Leitbild: geistige und physische Freiheit des Menschen. In dieser Welt sind sich die Massen dieses Ziels noch nicht bewusst, und der Weg dorthin ist schwer. Aber irgendwann muss man beginnen. Gerade Menschen mit einem aufmerksamen Gewissen sollten die Massen wachrütteln, sie nicht in einem viehischen Zustand schlafen lassen, sondern zum Kampf gegen die Unterdrückung führen. Selbst wenn die Massen diese Unterdrückung nicht empfinden.«
»Richtig«, Hexenmeister stimmte unerwarteterweise bereitwillig zu, »das Gewissen zeigt tatsächlich Ideale. Aber sie heißen eben deshalb Ideale, weil sie in krassem Missverhältnis
zur Realität stehen. Und darum sucht der Verstand, der kalte, ruhige Verstand, wenn er ans Werk geht, Mittel, um diese Ideale zu erreichen. Wenn sich dann zeigt, dass sich diese Mittel nicht in den Rahmen der Ideale fügen, muss man diesen Rahmen erweitern und das Gewissen ein wenig dehnen, korrigieren, anpassen. Nur das will ich sagen, nur das wiederhole ich: Man darf sein Gewissen nicht zu sehr hätscheln, sondern muss es so oft wie möglich dem rauen Wind der Realität aussetzen, ohne Furcht, dass es Flecken oder eine harte Kruste bekommen könnte. Aber das wissen Sie selbst. Sie haben nur noch nicht gelernt, die Dinge bei ihren Namen zu nennen. Aber auch das werden Sie lernen. Jetzt hat Ihnen Ihr Gewissen die Aufgabe gestellt, die Tyrannei der Unbekannten Väter zu stürzen. Der Verstand hat die Situation analysiert und vorgeschlagen: Weil es keine Möglichkeit gibt, die Gewaltherrschaft von innen zu beenden, zerschlagen wir sie von außen, hetzen die Barbaren auf sie. Mögen sie dabei die Waldbewohner zertreten, mögen sich in der Blauen Schlange die Leichen dammhoch türmen, soll doch ein großer Krieg kommen, der, vielleicht!, zum Sturz der Despoten führt - das alles dient schließlich einem edlen Ideal. Also gut, hat das Gewissen stirnrunzelnd zugestimmt, muss ich für die edle Sache eben ein bisschen verrohen.«
»Massaraksch!«, zischte Maxim, tiefrot im Gesicht und böse, wie Gai ihn nie gesehen hatte. »Ja, Massaraksch! Ja! Alles ist genau so, wie Sie es sagen. Was bleibt mir anderes übrig? Jenseits der Blauen Schlange sind die Menschen wandelnde Holzklötze. Vierzig Millionen Sklaven.«
»Richtig, richtig«, pflichtete Hexenmeister bei. »Eine andere Sache aber ist, dass Ihr Plan als solcher nichts taugt. Die Barbaren werden an den Türmen scheitern und zurückweichen, und unsere Aufklärer sind ohnehin zu nichts Ernsthaftem in der Lage. Mit Ihrem Plan könnten Sie sich genauso gut mit dem Inselimperium verbünden … Aber darum geht
es nicht. Ich fürchte, Sie kommen überhaupt zu spät, Mak. Sie hätten vor fünfzig Jahren herkommen sollen, als es noch keine Türme gab und keinen Krieg, als noch Hoffnung bestand, seine Ideale an Millionen weiterzugeben. Jetzt gibt es diese Hoffnung nicht mehr, jetzt ist das Zeitalter der Türme gekommen. Es sei denn, sie schleppen diese Millionen einzeln hierher, wie sie den Jungen mit der MP hergeschleppt haben. Glauben Sie jetzt nicht, ich wollte Ihnen etwas ausreden. Ich sehe deutlich, Sie sind stark, Sie sind eine Kraft, Maxim. Und allein Ihre Anwesenheit in unserer kleinen Welt bedeutet schon eine Störung ihres Gleichgewichts. Also handeln Sie! Doch möge Ihr Gewissen Sie nicht daran hindern, klar zu denken, und möge Ihr Verstand sich nicht scheuen, es nötigenfalls beiseitezuschieben. Außerdem rate ich
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