Gesammelte Werke 1
hereingekommen.«
»Ach so … Verzeihung. Wer sind Sie? Kann ich Ihnen weiterhelfen?«
Ich wiederholte, ich sei Maxim Kammerer, und erzählte ihr meine Legende.
Und da geschah etwas ganz Erstaunliches: Kaum hatte ich den Namen Lew Abalkin ausgesprochen, wich die Zerstreutheit von ihrem Gesicht. Sie war auf einmal hellwach und hing förmlich an meinen Lippen. Sie sagte jedoch kein Wort und hörte mich bis zu Ende an. Dann hob sie langsam ihre Hände vom Tisch, verschränkte die schlanken Finger und legte ihr Kinn darauf.
»Haben Sie ihn selbst gekannt?«, fragte sie.
Ich erzählte ihr von der Expedition ins Mündungsgebiet der Blauen Schlange.
»Und über all das werden Sie schreiben?«
»Selbstverständlich«, sagte ich. »Aber es wird nicht reichen.«
»Nicht reichen - wofür?«, fragte sie.
Ihr Gesicht hatte einen seltsamen Ausdruck angenommen - so, als könnte sie nur mit großer Mühe ihr Lachen zurückhalten. Sogar ihre Augen hatten zu funkeln begonnen.
»Verstehen Sie«, begann ich noch einmal, »ich möchte zeigen, wie sich Abalkin zu einer Kapazität auf seinem Gebiet entwickelt hat. Im Grenzbereich von Tierpsychologie und Soziopsychologie hat er etwas in der Art …«
»Aber er ist doch gar keine Kapazität auf seinem Gebiet geworden«, sagte sie. »Die haben einen Progressor aus ihm gemacht. Die haben ihn doch … Die …«
Nein, Maja Glumowa hatte nicht ihr Lachen zurückhalten wollen, sondern ihre Tränen. Und jetzt hielt sie sie nicht mehr zurück. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und begann zu weinen. Oh Gott, wenn eine Frau weint, ist das schrecklich genug, aber hier verstand ich nicht einmal, warum. Sie weinte heftig, selbstvergessen, wie ein Kind, und zitterte dabei am ganzen Körper. Und ich saß da wie ein Trottel und wusste nicht, was ich tun sollte. In solchen Fällen bringt man meist ein Glas Wasser, aber in diesem Zimmer gab es weder ein Glas noch Wasser noch etwas anderes, was ich ihr stattdessen
hätte geben können - nur Regale voller Objekte ungeklärter Funktion …
Sie aber weinte und weinte; die Tränen flossen in Rinnsalen zwischen ihren Fingern hindurch und fielen auf den Tisch. Sie verbarg noch immer ihr Gesicht in den Händen und schluchzte heftig, fing dann aber plötzlich an zu sprechen - konfus und stockend, als würde sie laut denken, und unterbrach sich dabei immer wieder selbst.
… Er hatte sie geschlagen - und wie! Sie brauchte nur aufzumucken, und schon setzte es was. Ihm war egal, dass sie ein Mädchen und drei Jahre jünger war als er - sie gehörte ihm, basta. Sie war ihm wie ein Ding, das er besaß; sie war sein persönliches Eigentum. Und das wurde sie sofort, fast noch am selben Tag, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Da war sie fünf, er acht. Er lief im Kreise herum und schrie seinen eigenen Abzählreim: »Ein Mann stand am Tor, die Tiere davor, er nahm sein Gewehr, und sie lebten nicht mehr!« Zehnmal, zwanzigmal hintereinander. Sie musste lachen, und dann verprügelte er sie zum ersten Mal …
… Es war schön - sein Eigentum zu sein, denn er liebte sie. Er liebte nie jemand anderen. Nur sie. Alle Übrigen waren ihm gleichgültig. Sie begriffen nichts und konnten nichts begreifen. Er jedoch trat auf der Bühne auf, sang Lieder und trug Gedichte vor - für sie. So sagte er es auch: »Das war für dich, hat es dir gefallen?« Er machte beim Hochsprung mit - für sie. Er tauchte zweiunddreißig Meter tief - für sie. Und nachts schrieb er Gedichte - für sie. Er wusste diese Sache, die ihm gehörte, sehr zu schätzen, und er war immer bemüht, ihrer würdig zu sein. Niemand wusste etwas davon. Er konnte es immer so einrichten, dass es keiner mitbekam. Bis zum letzten Jahr, als sein Lehrer es erfuhr …
… Ihm gehörten noch viele andere Dinge. Der ganze Wald rings um das Internat war eine sehr große Sache, die ihm gehörte. Jeder Vogel in diesem Wald, jedes Eichhörnchen,
jeder Frosch. Er befahl über die Schlangen, er begann und beendete Kriege zwischen den Ameisenhaufen, er konnte Hirsche heilen, und sie alle gehörten ihm, außer einem alten Elch namens Rex, den er als ebenbürtig anerkannte, doch später bekam er Streit mit ihm und vertrieb ihn aus dem Wald …
… Wie dumm sie gewesen war! Alles war so gut gewesen, aber dann, als sie herangewachsen war, setzte sie sich in den Kopf, sich von ihm zu befreien. Sagte ihm ins Gesicht, dass sie keine Lust mehr hatte, sein Eigentum zu sein. Er verprügelte sie, aber sie blieb stur,
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